Das erschöpfte Gehirn

Denken ist anstrengend, etwas anders machen als bisher, noch mehr. Woran liegt das? Am inneren Schweinehund? Am Hippocampus, sagt der Mediziner, Molekulargenetiker und Bestsellerautor Dr. med. Michael Nehls. In seinem neuesten Buch „Das erschöpfte Gehirn“ hat er diese Struktur als „Akku“ des Frontalhirns ausfindig gemacht. Ein Gespräch über allgemeine gesellschaftliche Ermattung und eine gesunde Lebensführung, die uns geistig fit hält. Dr. Nehls, was haben Sie heute schon für Ihr Gehirn getan? Ich habe vier Stunden lang intensiv gelesen und geschrieben und danach dann etwas zu Mittag gegessen. Nachmittags war ich auf dem Feld. Vor einigen Jahren haben meine Frau und ich begonnen, ein Stück ödes Land, auf dem 30 Jahre lang nichts als Mais angebaut wurde, in ein Biotop zu verwandeln. Und wir beide haben ein Morgenritual: Wir sitzen beim Kaffee zusammen, zu essen gibt es nichts, so verlängern wir das nächtliche Fasten, und dann besprechen wir alles, was für den Tag für uns wichtig ist. Ganz ohne Handyunterbrechung übrigens. Sie praktizieren also den Ausgleich von geistiger und körperlicher Arbeit. Aber inwiefern profitiert Ihr Gehirn von einem ausgedehnten gemeinsamen Frühstück ohne Essen? Zum einen bekomme ich später keinen Glucoseschub und bin am Schreibtisch wach und fit. Zum anderen aber ist diese morgendliche Stunde mit meiner Frau offenbar ideal für meine Gesundheit allgemein. Das kam vor Jahren raus, als ich über 2 Tage eine Herzfrequenzvariabilitätsmessung habe machen lassen: Frühmorgens waren die Werte am allerbesten. Und das bedeutet? Es ist diese Zeit des Zusammenseins mit einem geliebten Menschen, der mein System offenbar besonders gut ausgleicht, soziale Aktivität im Gegensatz zu Stress. Und davon profitiert auch das Gehirn, das Stress gar nicht mag, weil das seine Leistung beeinträchtigt. Sie arbeiten im Schnitt täglich auch nur rund vier Stunden intensiv geistig, das aber an sieben Tagen in der Woche. Ist das für das Gehirn besser als acht Stunden oder mehr ohne Pausen? Absolut. Nach vier Stunden kreativer Arbeit mit Denken, Ideen entwickeln, Formulierungen finden und schreiben bin ich erschöpft. Und das ist ganz natürlich. Wir haben nun mal ein prähistorisches Gehirn, das sich seit dieser Zeit nicht mehr wesentlich verändert hat. Das Ganze hängt mit der Konstruktion unseres Gehirns zusammen und mit dem, was ich den Akku unseres Frontalhirns nenne, der nicht unbegrenzt Energie nachlegen kann. Unsere Batterie ist einfach nach gewisser Zeit leer und muss erst wieder aufgeladen werden. Der schrumpfende Akku In Ihrem neuesten Buch „Das erschöpfte Gehirn. Der Ursprung unserer mentalen Energie – und warum sie schwindet“ attestieren Sie der Gesellschaft allgemein einen chronischen Kapazitätsverlust unseres Akkus im Gehirn. Bevor Sie uns das näher erklären: Müssen wir uns angesichts dieser dramatischen Diagnose Sorgen machen? Auf jeden Fall. Menschen, deren Gehirne immer mehr erschöpft sind, können nicht mehr über ihre Lebenssituation nachdenken, kreativ sein, empathisch sein, Pläne machen oder den eigenen Kurs ändern, wenn es nötig ist, also Entscheidungen treffen. Vor allem neue Entscheidungen. Denn all das benötigt Energie, und diese Energie verringert sich bei vielen Menschen. Woran liegt das? Der Akku schrumpft. Er könnte lebenslang seine Kapazität erhalten und sogar wachsen, selbst im höchsten Alter, aber es gibt genügend Studien, die zeigen, dass er aufgrund unserer modernen Lebensweise nicht mal in der Jugend seine maximale Kapazität erreicht. Sind wir erwachsen, schrumpft er um ein Prozent und mehr pro Jahr. Mit 80 ist in der Regel, drastisch formuliert, die Hälfte weg. Das ist fatal. Energiequelle Hippocampus Nicht jeder ist mit der Anatomie des Gehirns vertraut. Auf welche Strukturen kommt es hierbei an und was genau ist dieser Akku? Nachdenken, konzentriert sein, Fantasie entwickeln, die eigene Lebenssituation mit Abstand betrachten und Entscheidungen treffen, vor allem neue, und sie willensstark umsetzen – all das machen wir mit dem sogenannten Frontallappen oder präfrontalen Cortex, den ich kurz Frontalhirn nenne. Das ist der Bereich direkt hinter der Stirn. Diese Prozesse sind jedoch anstrengend und erfordern viel Energie. Woher kommt sie? Ich meine, die Antwort gefunden zu haben: Sie kommt aus der Mitte des Gehirns, dem Hippocampus. Das ist eine paarige Struktur, die aussieht wie zwei Seepferdchen, daher auch der lateinische Name. Er entspricht allen wissenschaftlichen Kriterien für die Quelle unserer mentalen Energie und ist damit der Akku des Frontalhirns. Was macht Sie so sicher, dass der Hippocampus dieser wichtige Akku ist? Die Wissenschaft sucht schon lange danach. Und mir fiel irgendwann auf, dass der Hippocampus alle Anforderungen erfüllt: Er ist die einzige Hirnstruktur, die uns erlaubt, unsere eigenen Gedanken zu reflektieren, Pläne zu schmieden und sie umzusetzen. Gleichzeitig ist seine Kapazität begrenzt und muss nachts im Schlaf wieder „aufgeladen“ werden. Bei stereotypen, gewohnheitsmäßigen Tätigkeiten wird er nicht oder kaum verwendet. Wird er aber nicht richtig genutzt oder der nächtliche Reset geschieht nur mangelhaft, führt das langfristig zu einer Frontalhirnschwäche, mit ähnlichen Symptomen wie bei einer organischen Schädigung des Frontalhirns. Auf Autopilot-Modus bei leerem Akku Worunter leiden Menschen mit einem beeinträchtigten Frontalhirn? Routinehandlungen sind möglich, die Menschen werden aber tendenziell teilnahmslos und depressiv oder aber distanzlos und aktionistisch. Die Empathie-Fähigkeit nimmt ab, sie können sich nicht mehr in andere hineinversetzen. Vor allem können sie immer weniger Probleme lösen, ihr Leben nicht mehr bewusst lenken und in neue Bahnen steuern. Sie denken und handeln, wie sie immer gedacht und gehandelt haben. Und das kann auch entstehen, wenn wir unseren Akku nicht richtig nutzen und pflegen? Nicht über Nacht, aber langfristig. Der Psychologe Daniel Kahneman bezeichnete dies als System-I-Denken, wenn wir sozusagen auf Autopilot durchs Leben steuern. In Gefahrensituationen ist das lebensrettend: Rast ein Auto auf mich zu, sollte ich sofort zur Seite springen, statt stehen zu bleiben und darüber nachzudenken, was den Fahrer wohl dazu bewegt. System-I-Denken erleichtert uns den Alltag, wenn wir beispielsweise Rad und Auto fahren. Solche Routinen brauchen keine mentale Energie, einmal verinnerlicht, laufen diese Dinge quasi automatisch ab, unbewusst. System II hingegen springt an, wenn wir über etwas nachdenken, zu neuen Erkenntnissen kommen und dann etwas anders machen als zuvor. Bewusst. System-II-Denken muss sozusagen erst aktiviert werden? System I ist immer aktiv, System II erst, wenn ich ein Bauchgefühl habe und merke: Moment, hierüber sollte ich nachdenken. Allerdings übergehen wir das oft. Wir wollen schnell sein, der Erste mit der Antwort, etwas besser wissen als andere – und liegen dann oft daneben. Schnell ist eben vorschnell. Gibt es jedoch eine frühere Erfahrung, wo es peinlich war, mit etwas herausgeplatzt zu sein, schaltet sich System-II-Denken ein. Wir halten inne, überlegen, lassen uns Zeit, bedenken Alternativen. Und kommen eher zum richtigen Ergebnis. Die Unterscheidung, die ich hier treffe, beruht auf der Theorie vom „schnellen und langsamen Denken“, für die es 2002 den Nobelpreis gab.* Für langsames Denken, was Daniel Kahneman als System-II-Denken bezeichnete, braucht unser Frontalhirn den Hippocampus als Akku. Der Hippocampus als Sicherheitsspeicher Wieso beansprucht bewusstes Nachdenken den Hippocampus, unseren Akku? Wenn ich über etwas nachdenke, muss ich mir einzelne Erkenntnisse merken, Zwischenergebnisse sozusagen. Dafür ist das Frontalhirn aber nicht ausgelegt. Hier befindet sich unser Arbeits- und Kurzzeitgedächtnis, doch wie bei einem Computer gehen die Daten verloren, wenn wir sie nicht speichern. Der Hippocampus ist unser Sicherheitsspeicher, er merkt sich, was wir wann und wo erlebt und eben auch gedacht haben. Dazu muss es emotionale Bedeutung haben, also bewusst erlebt werden. Dieser Akku hat aber, wie Sie sagen, nur eine begrenzte Kapazität? Wir können nicht Stunden um Stunden denken und uns kreative Lösungen einfallen lassen. Der Hippocampus hat Platz für eine „Tagesladung“ an Eindrücken, Gedanken, Empfindungen. Sie werden als veränderte Synapsenstärken bezeichnet. Die entsprechende Synapse ist damit dann „besetzt“. Sind alle Synapsen besetzt, beladen mit Erinnerungen des Tages, entsteht in uns das Gefühl, dass der Akku leer ist – weil der Hippocampus voll ist und nichts mehr aufnehmen kann. Alzheimer-Prophylaxe: gesunder Schlaf Der Akku muss sich also entleeren, um wieder aufnahmefähig zu sein und damit „voll“ an freien Synapsen? Das geschieht in der Nacht im Schlaf. Dann lädt der Hippocampus alles Relevante in den Neocortex, unser Großhirn, hoch. Das ist unsere finale Speicherplatte. Sie lernt etwas langsamer, deshalb muss die Information mehrmals hochgeladen werden, in den REM-Phasen des Tiefschlafs. Ist dieser Prozess abgeschlossen, morgens, im Slow-Wave Sleep, wird aus dem Hippocampus das sogenannte Beta-Amyloid herausgewaschen, mit dem die Synapsen ihre veränderte Stärke stabilisiert und ihre Erinnerungen gesichert haben. Damit war die jeweilige Erfahrung über Tag vor dem Überschreiben geschützt. Erst, wenn das Beta-Amyloid entfernt wurde, sind die Synapsen wieder frei für frische Eindrücke des neuen Tages. Deshalb ist ausreichend Schlaf so wichtig? Genau. Schlafen wir nicht oder nicht genug, kann sich immer mehr Beta-Amyloid ansammeln, das nicht entfernt wird. Erreicht es ein toxisches Level, konglomeriert es, verklumpt, und kann die Nervenzellen zerstören. Ich nenne es das Alzheimer-Toxin. Die Alzheimer-Demenz ist im frühen Stadium eine hippocampale Störung, die ja dadurch gekennzeichnet ist, dass Betroffene sich kaum noch etwas Neues merken können. Wie sollte unser Schlaf daher sein? Zehn Stunden waren in der Steinzeit normal, heute schläft man sieben Stunden und weniger. Das macht zunächst nichts, die Phasen zwischen den Tiefschlafphasen passen sich an, Hauptsache, man bekommt gleich viel Tiefschlaf wie unsere frühen Vorfahren. Problematisch aber ist es, wenn der Schlaf häufig unterbrochen wird. Wer aufwacht, braucht Zeit, um wieder in den Tiefschlaf zu sinken. Geschieht das in einer Nacht häufiger, ist die Summe an Tiefschlaf zu niedrig. Ich wache morgens auf mit noch nicht vollkommen hochgeladenen Gedächtnisinhalten, der Hippocampus ist dementsprechend noch nicht vollständig befreit vom Beta-Amyloid, und ich fühle mich nicht erholt. Über die Zeit nimmt so das Risiko zu, später an Alzheimer zu erkranken. Stress als Gefahr für den Hippocampus Was lässt den Hippocampus schrumpfen? Beginnen wir andersherum: Bewusstes System-II-Denken nutzt den Hippocampus und trainiert ihn, einem Muskel vergleichbar. Dabei werden u. a. neue Nervenzellen und auch ständig neue Synapsen gebildet. Was ein Mensch davon dann aber nicht nutzt, weil er nur in Routinen lebt (System-I-Denken) – kein bewusstes Nachdenken und Wahrnehmen im Frontalhirn und Zwischenspeichern im Hippocampus –, degeneriert wieder. Auch das kennen wir von Muskeln. Ohne Aufgabe, ohne das Speichern neuer, „merk-würdiger“ Erlebnisse oder Gedanken, gibt es für neu entstandene Nervenzellen keinen Lebensinhalt und damit kein Überleben. Sie erwähnten eingangs auch unser modernes Leben als große Gefahr für den Hippocampus. Da ist vor allem Distress, negativer Stress. Studien haben gezeigt, dass andauernde Anspannung schon den Hippocampus von Kindern so stark beeinträchtigen kann, dass er sich gar nicht erst zu seinem vollen Potenzial entfaltet. Das heranreifende Gehirn reagiert besonders empfindlich auf Belastungen durch schulischen und sozialen Stress. Immer mehr Leistung erbringen zu müssen, darunter leiden Eltern und Kinder. Auch keine Zeit zu haben, und das, was man tut, in Ruhe zu tun, wird als Stress erlebt. Ist die Konzentration des Stresshormons Cortisol aber dauerhaft erhöht, wirkt das auf Nervenzellen wie ein Gift und lässt sie absterben. Davon betroffen ist besonders auch der Hippocampus. Bei Menschen, die an Depressionen leiden, ist dieses Areal verkleinert – und heute leiden auch immer mehr Kinder unter Depression und Burn-out. Allgemein ist die psychische Resilienz, die Fähigkeit, mit Stress verschiedenster Art umzugehen, verringert. Ein „artgerechtes“ Leben führen Da der Hippocampus aber auch wachsen kann: Was hilft ihm dabei? Das, was ich ein artgerechtes Leben nenne. Die meisten Menschen leben heute derart artfremd, dass der chronische Kapazitätsverlust des Frontalhirn-Akkus zur Normalität wurde. Und was gehört zu einem artgerechten Leben, außer genügend Schlaf? Ausreichend körperliche und soziale Aktivität und eine gesunde Ernährung sind zentral. Beginnen wir bei dem, was wir essen. Wir sind heute mangelernährt, weil wir zu viel vom Falschen zu uns nehmen: zu viele Transfette, zu viele ungesunde Zucker, zu viele Kuhmilchprodukte. Zugleich fehlen uns essenzielle Nährstoffe. Das menschliche Gehirn machte seinen größten Wachstumsschub, als der Mensch noch als Fischer und Sammler an den afrikanischen Küsten lebte. Das lag vor allem an seinem hohen Konsum aquatischer Omega-3-Fettsäuren in Verbindung mit lebenswichtigen Mineralstoffen wie Jod, Selen und Kupfer und Vitaminen wie Vitamin A und D. Würde es reichen, mehr Fisch zu essen? Die Realität sieht leider so aus, dass es nicht mehr genügend Fisch für alle gibt. Und der vorhandene Fisch ist mit Schwermetallen belastet. Doch es gibt eine Lösung: gleichwertige Omega-3-Fettsäuren in Form von Algen-Öl, gewonnen aus Mikroalgen. Diese können ganz ohne Schadstoffe gezüchtet werden und würden den Mangel beheben. Algen-Öl sollte ein neues Grundnahrungsmittel werden! Könnte Algen-Öl auch bei der Versorgung mit Vitamin D helfen? Viele Menschen haben ja zu wenig davon. Ja, aber nur, wenn man es mit Vitamin D anreichert. Damit der Hippocampus neue Nervenzellen ausbilden kann, gerade auch in fortgeschrittenem Alter, braucht es eine Konzentration von etwa 100 nmol an sogenannten 25-OH-D3 pro Liter Blut. Eine dänische Studie hat gezeigt, dass ein Wert von nur 50 nmol allein das Alzheimer-Risiko um 70 % erhöht. Der optimale Vitamin-D-Spiegel liegt sogar bei etwa 125 nmol pro Liter. Wer selbst etwas tun möchte, sollte zuvor von seinem Arzt den Vitamin-D-Spiegel bestimmen lassen, um eine Überdosierung zu vermeiden. Zur Orientierung: Um den Vitamin-D-Spiegel zum Beispiel um 1 nmol zu verbessern, benötigt man etwa 50 IE (Internationale Einheiten) täglich. Inwiefern hilft es dem Hippocampus, wenn der Mensch zeitweise nichts isst, wie Sie es auch tun? Fasten baut unsere Fettspeicher ab. Die dabei freigesetzten langkettigen, gesättigten Fettsäuren zerstückelt die Leber zu sogenannten Ketonkörpern um, die über die Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn gelangen und auch den Hippocampus ernähren. Zugleich wirken Ketonkörper als Hormone und tragen zur Kapazitätserweiterung bei, indem sie die Neubildung von Nervenzellen dort anregen und schon existierende Nervenzellen verjüngen. Nebenbei wirken diese Ketonkörper auch hemmend auf Entzündungen, aber stimulierend auf nervenschützende Immunzellen. Ein hoher Ketonkörper-Spiegel signalisiert dem Hippocampus, dass er wachsen soll. Dafür muss man allerdings 12 bis 16 Stunden am Stück fasten, warum nicht die Nacht dafür mit nutzen? Bewegung auf allen Ebenen Wie viel Bewegung macht den Hippocampus und damit uns glücklich? Auch wenn die Jagd nach dem Mammut schon eine Weile zurückliegt: Der Mensch ist von seiner Prägung her ein Bewegungstier. Die meisten verbringen ihre Arbeitszeit aber inzwischen im Sitzen. Dabei regt schon leichte körperliche Aktivität wie Treppensteigen die Bildung neuer Blutgefäße im Gehirn an, sodass sich die Durchblutung unseres Gehirns sogar im Ruhezustand verbessert. Von Bewegung profitiert neben dem Herz-Kreislauf-System auch unser Immunsystem, manche Botenstoffe, die beim Sport freigesetzt werden, tragen dazu bei, dass der Hippocampus wächst. Zudem ist es längst erwiesen, dass man Lernstoff leichter verinnerlicht, wenn man sich dabei bewegt. Sie sprechen auch von einer „Bewegung im Denken“. Wieso ist das förderlich? Wer sich viel bewegt, das gilt auch schon für Schulkinder, ist zugleich beweglicher, also kreativer im Denken, und kann besser assoziativ erinnern: Auch komplexe Zusammenhänge werden schneller erfasst und leichter behalten. Eine Studie zeigte, dass Kinder, die körperlich mangels Bewegung nicht so fit waren, sich zwar ebenso gut Fakten merken konnten, sich aber schlechter an Erlebtes erinnerten, und zwar in Relation zur Verkleinerung ihrer Hippocampi. Depressionen gehen mit negativem Denken über sich selbst, Erlebtes und die Umwelt einher. Bewegung könnte das positiv beeinflussen? Bewegungsmangel ist eine Ursache von Depression, man denkt immer mehr schwarz-weiß. Die Neurogenese, also die Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus, verringert sich, vor allem auch bei Erwachsenen. Es muss sich bei Bewegung nicht um anstrengenden Sport handeln. Schon Spazierengehen reicht. Eine Studie mit etwa 70 Jahre alten Senioren zeigte, dass der Hippocampus allein durch Spazierengehen sein Volumen in einem Jahr um 2 % vergrößern kann, anstatt um etwa 1,4 % zu schrumpfen, wie es ohne Bewegung oft der Fall ist. Den Lebenssinn als Kompass nutzen Zu Depressionen gehört es außerdem, immer weniger Sinn im eigenen Leben zu finden. Sinnhaftigkeit ist für Sie wiederum das zentrale Merkmal für einen gesunden Hippocampus. In einer materiellen, technisierten Welt scheint dafür jedoch immer weniger Platz zu sein. Offenbar auch zu unserem Nachteil? Nur der Mensch sucht nach dem Sinn des Lebens. Bei sinnerfüllenden Aufgaben erleben wir Be-Geist-erung, positiven Stress (Eustress), und das speziell vernetzt die täglich neu entstehenden Nervenzellen im Hippocampus. Sie kommen dabei ja auch ihrer ureigensten Aufgabe nach: Sie speichern für uns bedeutsame Erinnerungen. Machen wir hingegen etwas, was uns langweilt, sind wir oft mit Gedanken gar nicht dabei und merken buchstäblich nicht, was wir da tun. Haben wir jedoch einen persönlichen Sinn im Leben, den wir verfolgen, erleben wir etwas, das sich für den Hippocampus zu erinnern lohnt, und die Kapazität unseres Akkus steigert sich von Tag zu Tag. Was gibt Ihnen Sinn im Leben? Dazu gehört, dass ich meinen Kindern eine lebenswerte Welt hinterlassen möchte. Deshalb schreibe ich Bücher. Eine Welt, in der die Natur nicht immer weiter zerstört wird, die Meere und die Luft nicht weiter verschmutzen, Nahrungsmittel nicht mehr toxinbelastet und Arzneimittel giftig sind. Eine Welt, in der wir artgerecht leben, ohne digitalen Dauerkonsum. Eine Welt, die wir nicht selbst zerstören, was aber wiederum größerer Frontalhirn-Aktivität bedarf und eines gut geladenen Akkus. Eine Studie fand kürzlich heraus, dass allein erhöhte bildschirmbasierte Mediennutzung mit schlechteren Leitungsbahnen im Gehirn einhergeht, über die etwa auch Frontalhirn und Hippocampus miteinander kommunizieren. Ich rate daher dazu, sich auf seine eigene Natur und seine natürlichen Bedürfnisse zu besinnen. Dazu gehört, einfach Zeit für sich zu haben, zu reflektieren und – wenn nötig – nach guten Aus-Wegen suchen. Dr. Nehls, herzlichen Dank für dieses Gespräch! Andrea Freund * Siehe „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Daniel Kahneman, Siedler Verlag, 26. Edition, 2012. Literatur • Dr. med. Michael Nehls: Das erschöpfte Gehirn. Der Ursprung unserer mentalen Energie – und warum sie schwindet. Heyne-Verlag, 2022. Über die Autorin Andrea Freund ist Autorin und Redakteurin, ausgebildet als Heilpraktikerin für Psychotherapie (KVT), in Spiritueller Astrologie sowie als Yogalehrerin.

Der Artikel "Das erschöpfte Gehirn" ist Teil der Audio-Ausgabe Juli 2022

Das erschöpfte Gehirn

Interview mit Dr. med. Michael Nehls: Den mentalen Akku wieder aufladen

Editorial Juli 2022 · Wunderwerk Körper · Die faszinierende Welt der Hormone · Naturprodukt Propolis · Das erschöpfte Gehirn · Die Wim-Hof-Methode · Gesunde und robuste Pflanzen dank Homöopathie · Juli 2022 – Eingebildete Kranke? · PLUS: Die komplette Ausgabe in einem Track

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