„Leider wird die Umweltmedizin bis heute weitgehend ignoriert!“

Warum wird der eine krank, während der andere unter den gleichen Umweltbelastungen gesund bleibt? Warum haben allergische und entzündliche Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten so stark zugenommen? Und: Hat unsere Umwelt gar einen Anteil am Anstieg psychischer Erkrankungsbilder wie Depressionen? Dr. med. Kurt E. Müller forscht seit Jahrzehnten zu den gesundheitlichen Auswirkungen unserer Umgebung und hat nicht nur den Fachbereich Klinische Umweltmedizin mitbegründet, sondern auch den Deutschen Berufsverband Klinischer Umweltmediziner sowie die European Academy for Environmental Medicine. NATUR & HEILEN hat sich mit dem engagierten Umweltmediziner über die Hintergründe seines Fachbereichs, die größten aktuellen Umweltbelastungen sowie die dringende Notwendigkeit eines Umdenkens in Medizin, Industrie und Politik unterhalten. Dr. Müller ist überzeugt: Es braucht nicht nur eine individualisierte Präventivmedizin, sondern vor allem auch die Berücksichtigung umweltmedizinischer Erkenntnisse im Rahmen industrieller Produktentwicklungen. Interview mit dem Umweltmediziner Dr. med. Kurt E. Müller Herr Dr. Müller, was hat Sie Anfang der 90er-Jahre dazu veranlasst, einen eigenständigen Fachbereich für Klinische Umweltmedizin ins Leben zu rufen? Als ich mich zu Beginn der 80er-Jahre als Dermatologe niederließ, boomten in Deutschland die allergischen Krankheiten, und sie wurden auch erstmals in der Medizin signifikant wahrgenommen. Dementsprechend hatte ich in meiner Praxis den Schwerpunkt allergischer Krankheiten mit dabei. Zu dieser Zeit ging man in der Medizin noch davon aus, dass rund 7 % der Bevölkerung von Allergien betroffen waren. Doch nachdem ich einige Jahre als Arzt tätig war, hatte ich das Gefühl, dass diese Zahl vorne und hinten nicht stimmen konnte – und ich begann, meine eigenen Daten auszuwerten. Ich arbeitete damals in einer großen Gemeinschaftseinrichtung und hatte so Zugriff auf fast 48.000 Patientendaten. Bei der Datenauswertung zeigte sich: Allein schon von unseren eigenen Patienten litten ganze 30 % an allergischen Erkrankungen! Als ich diese Zahl kurze Zeit später auf einem Ärzte-Kongress kommunizierte, bekam ich jedoch kräftigen Gegenwind. Man hielt sie für maßlos übertrieben und warf mir vor, ich wolle Panik erzeugen. Daraufhin wurden durch das Institut für Epidemiologie der LMU München weitere Untersuchungen an insgesamt drei Standorten in Bayern durchgeführt, die mein Resultat mit einem Ergebnis von 34 % in der von mir untersuchten Region sogar noch übertrafen. Hatten Sie zu diesem Zeitpunkt schon die Umwelt als primäre Ursache im Verdacht? Natürlich fragte ich mich, wie es sein konnte, dass sich ein solches Krankheitsphänomen so rasant in der Bevölkerung ausbreitete. Und mit dieser Überlegung einher ging zwangsläufig auch die Frage: War die Umwelt in irgendeiner Form daran beteiligt? Folglich begann ich stärker darauf zu achten, woher meine Patienten kamen, wie sie lebten, was ihre Arbeitsumstände waren. Ich kartografierte auch Fälle und schaute mir an, wo sich bestimmte Fallzahlen verdichteten. Letztlich kam ich zu dem Schluss, dass die Umweltkonditionen, wie wir sie in den 50er- bis 70er-Jahren geschaffen hatten, einen großen Anteil an dieser Entwicklung haben mussten. Ein richtiges Schlüsselerlebnis war für mich dann eine Untersuchung aus Münster, bei der die Muttermilch von 400 Frauen untersucht worden war – mit dem Ergebnis, dass der Anteil chlorierter Kohlenwasserstoffe in der Milch höher war als jener in der Muttermilch vietnamesischer Frauen, die ja bekanntermaßen mit Agent Orange aus der Luft kontaminiert worden waren. Dazu muss man wissen: Chlorierte Kohlenwasserstoffe sind chemische, fettlösliche Substanzen mit extrem hoher Toxizität bereits in kleinsten Konzentrationen. Und in Deutschland lagen sie damals als sogenannte Hintergrundbelastung vor. Doch die Frage war ja: Wie waren die Stoffe überhaupt in den Hintergrund gekommen? Und da kam für mich neben der Nahrung vor allem die Atemluft als wesentlicher Transportweg in Betracht. Daher begann ich, genauer zu untersuchen, wie viel der Mensch von diesen Stoffen täglich über die Atmung in den Körper aufnahm. Und schließlich konnte ich sogar die primären Vergiftungsquellen identifizieren. Im Fadenkreuz von Industrie und Politik Und wie wurden Ihre Forschungsergebnisse damals aufgenommen? Na ja, da rückt man natürlich schnell in das Fadenkreuz von Industrie und Politik, die solche Belastungen bis dahin ja immer als vernachlässigbar dargestellt hatten. Plötzlich mussten politische Entscheidungen getroffen und Risikoquellen ausgeschaltet werden, z. B. die polychlorierten Biphenyle, die man als Dichtungsmaterial in so vielen Schulen eingesetzt hatte, weshalb Lehrer und Schüler damit kontaminiert waren. Auch giftige Holzschutzmittel waren zu dieser Zeit im Gebrauch – sogar in Innenräumen, wo sie eigentlich gar nicht eingesetzt werden durften. Menschen, die sich Eigenheime in Fertigbauweise zugelegt hatten, wussten oft nicht, dass sie sich diese Stoffe mit den Fertigwänden ins Haus holten. Es bestand also eine breite Exposition in der Bevölkerung. Und so beschloss ich, einen eigenen Fachbereich für Umweltmedizin zu gründen. Das tat ich gemeinsam mit meinem inzwischen leider schon verstorbenen Kollegen Dr. Peter Ohnsorge. Später haben wir dann unseren Fachbereich noch einmal umbenannt in Klinische Umweltmedizin, weil andere Fächer den Begriff der Umweltmedizin für sich annektiert hatten. Die Toxikologie nannte sich plötzlich „Toxikologie und Umweltmedizin“, die Hygiene „Hygiene und Umweltmedizin“ usw., wobei die Lehrinhalte überhaupt nicht angepasst worden waren. Und davon mussten wir uns natürlich abgrenzen – auch um zu zeigen, dass wir wirklich sachliche Arbeit machen wollten. Das Risiko elektromagnetischer Felder Inzwischen sind ja viele chlorierte Kohlenwasserstoffe verboten oder zumindest in ihrem Gebrauch stark eingeschränkt worden. Gleichzeitig gibt es eine Fülle neuer Substanzen auf dem Markt. Welche Stoffe sind es denn heute, die unserer Gesundheit am meisten schaden? In den 60er- bis 80er-Jahren waren sicherlich die chlorierten Kohlenwasserstoffe die alles entscheidenden Stoffe für umweltbedingte Probleme beim Menschen – neben dem Amalgam als Zahnmaterial, das wirklich Millionen von Menschen im Mund trugen. Doch durch die Änderung unserer Telekommunikation und die Anwendung elektromagnetischer Wellen als Übertragungssysteme hat sich unsere Welt in den letzten Jahren dramatisch verändert. Dadurch haben wir eine Verschiebung bekommen – weg von der Dominanz der chemischen Stoffe als Krankheitsursache hin zu einer stärkeren Wirkung physikalischer Effekte. Und hier besteht nun leider ein großer Unterschied zur früheren Exposition: In der Zeit der Dominanz der chemischen Stoffe hatte jeder Einzelne noch die Chance, sich auszuklinken. Er konnte sagen, ich wohne an bestimmten Orten nicht mehr, ich richte meine Wohnung umweltfreundlich ein, oder ich kaufe mir ökologische Textilien und Nahrung, die weniger belastet sind. Bei den elektromagnetischen Feldern hat man diese Gestaltungsfreiräume nicht – auch nicht durch vernünftiges Verhalten, denn die Dichte der Sendemasten wird in Zukunft im Bereich von 300 bis 500 Metern liegen. Das heißt: Wir sind alle exponiert! Eigentlich sollte man meinen, dass sich auch Verfassungsrechtler mit dieser Thematik beschäftigen, denn schließlich handelt es sich ja um eine Verletzung der individuellen Integrität, die so in unserer Verfassung nicht vorgesehen ist. Bisher haben die Gerichte allerdings entschieden, dass der Nutzen für die Gesellschaft größer ist als der Schaden im Einzelfall. Schon heute sind 5G-Mobilfunknetze in Deutschland fast flächendeckend ausgebaut. Wie wirken sich denn die damit verbundenen elektromagnetischen Felder konkret auf den menschlichen Organismus aus? Dazu habe ich gemeinsam mit einer Neurowissenschaftlerin detaillierte Untersuchungen durchgeführt, die in der Fachzeitschrift Psychophysiology veröffentlicht worden sind. Unter anderem haben wir Probanden per Handy ein 120-minütiges Telefonat im 5G-Betrieb durchführen lassen und währenddessen ihre Gehirnfunktionen und wichtige Immunparameter untersucht. Zusätzlich zu den Handy-Untersuchungen haben wir Messungen im Elektroauto mit 5G im WLAN gemacht. Dabei hat sich gezeigt, dass 5G bereits 30 Minuten nach Exposition Entzündungsprozesse im Körper aktiviert. Der entzündungswirksame Botenstoff Interleukin-1ß ist bei den Probanden pathologisch angestiegen. Ein weiterer Entzündungsfaktor, das TNF-α, hat zwar einen etwas trägeren Anstieg gezeigt, war aber nach 90 Minuten ebenfalls -pathologisch erhöht. Weiterhin traten unter 5G-Einfluss deutlich messbare Gehirnveränderungen auf. Und zwar haben wir bei den Probanden ein 256-Kanal-EEG geschrieben – das ist das modernste, das es zurzeit gibt. Dabei werden die Kurvenaufzeichnungen des EEG direkt in ein optisches Bild umgewandelt, sodass man sehr genau sehen kann, in welchen Bereichen des Gehirns Veränderungen auftreten. Nun, unter 5G-Einfluss war eine deutliche Stressaktivierung im limbischen System erkennbar – besonders aber im Hypothalamus, der zentralen Steuerungsinstanz für hormonelle Abläufe im Körper. Diese Ergebnisse sind wirklich brisant, denn man weiß schon lange, dass Interleukin-1ß und TNF-α wichtige „Entzünder“ des Hypothalamus sind. Das heißt: Bei 5G haben wir es mit einem Entzündungsgeschehen zu tun, das tief in das Gehirn hineinreicht! Umweltmediziner als Partner der Industrie Sollten solche gesundheitsrelevanten Untersuchungen nicht eigentlich im Vorfeld neuer Produkt- und Technologieentwicklungen stattfinden? Absolut. Wir müssen endlich Verantwortung übernehmen und sichere Produkte und Technologien entwickeln! Ich sage immer: Wir Umweltmediziner sind keine Gegner der Industrie, sondern natürliche Partner im Schaffen sicherer Produkte, die für die Gesellschaft eine sehr viel bessere Tragfähigkeit hätten. Bei den eben erwähnten 5G-Studien haben wir z. B. auch Messungen mit einer bestimmten Abschirmtechnologie gemacht, in unserem Fall mit dem 5G-GabrielChip. Und da konnte man ganz klar sehen, dass durch die Anwendung dieser Entstörungstechnologie eine signifikante Reduzierung der Stressaktivierung im Gehirn erfolgte – sowohl während der 5G-Telefonate als auch im Elektroauto. Das heißt: Solche Möglichkeiten gibt es bereits! Sie liegen fertig in der Schublade und wären sofort in die Produktion zu übernehmen. Im Übrigen könnte es der Gesetzesgeber auch zur Auflage machen, dass jeder, der ein neues Produkt oder eine neue Technologie auf den Markt bringt, gleichzeitig etwas liefern muss, was vor den damit einhergehenden potenziellen Risiken schützt. Doch solche Überlegungen kommen leider gar nicht erst zum Tragen – vor allem wegen der Konkurrenz aus dem asiatischen Raum. Ich persönlich glaube allerdings nicht, dass wir den Konkurrenzkampf mit asiatischen Billigprodukten gewinnen werden, indem wir es genauso schlecht, nur teurer machen, sondern wir müssen es besser und sicherer machen – dann darf es auch etwas teurer sein. In der Textilindustrie gibt es ja z. B. schon Betriebe, wo vor allem Junior-Chefs mehr Sicherheit in das Unternehmen eingebracht haben, und dafür dürfen sie sich dann auch mit entsprechenden Labels schmücken. Doch leider gibt es bis heute noch ganze Produktgruppen, vor allem in der Elektronikindustrie, wo gesundheitliche Schutzvorkehrungen komplett fehlen. Da überlassen wir es lieber der nächsten Generation, Lösungen zu finden, die dann rückwirkend vielleicht gar nicht mehr möglich sind. Chemie-Cocktail im Salat Auch was das Verbot gefährlicher Chemikalien betrifft, sind Industrie und Politik ja oft recht träge. Jüngstes Beispiel ist die erneute EU-Zulassung des Unkrautvernichters Glyphosat, der bekanntermaßen gesundheits- und umweltschädigende Risiken birgt. Die EU-Kommission hat sich bei ihrer Entscheidung vor allem auf toxikologische Gutachten gestützt, die dem Wirkstoff bei sachgemäßem Einsatz „Unbedenklichkeit“ attestieren. Ja, aber das große Problem an solchen toxi-kologischen Untersuchungen ist, dass immer nur eine Einzelstoff-Risikobestimmung erfolgt – und das auch nur für sehr kurze Zeiträume von 4 bis 7 Monaten. Das hat mit der Lebensrealität der Menschen aber nichts zu tun. Für das Jahr 2004 hatte ich mal recherchiert, dass weltweit rund 120.000 Chemikalien im Alltagsgebrauch waren. Nach Zahlen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sollen es 2020 bereits an die 365.000 gewesen sein. Das heißt: Wir haben es mit der Einwirkung einer Vielzahl von Chemikalien, also mit hochkomplexen Gemischen zu tun! Und wissenschaftlich lässt sich leider überhaupt nicht seriös vorhersagen, wie diese ganzen Stoffe untereinander interagieren. Allein schon, wenn Sie einen konventionell angebauten Salatkopf kaufen, sind ja bis zu 12 verschiedene Pestizid-Wirkstoffe drin. Nun essen Kinder davon, Frauen, Männer, unterschiedliche Altersgruppen – und wir müssen davon ausgehen, dass die alle ganz unterschiedlich mit diesem Gemisch umgehen. Worauf es ankommt, ist immer die individuelle Suszeptibilität, sprich: Wie empfindlich ist der Einzelne? Und diese individuelle Suszeptibilität bedingt eben ein sehr unterschiedliches Risiko, sodass es Menschen gibt, die bei gleicher Exposition gar kein Problem haben, während andere schwer erkranken. Individualisierung statt Standardisierung Müsste man unter diesem Gesichtspunkt nicht auch toxikologische Grenzwerte kritischer hinterfragen? Ja natürlich, und auch die Medizin müsste sehr viel individueller hinschauen. Doch leider will das in die Köpfe der meisten Ärzte nicht hinein. Bis heute herrscht da so ein komisches Gleichheitsverständnis: Medizinisch sind wir angeblich alle gleich, obwohl wir eigentlich wissen, dass Menschen vollkommen unterschiedlich funktionieren. Doch der Arzt von heute will eine Leitlinie: Bei Diagnose xy machen Sie Punkt 1. Wenn das nicht klappt, nehmen Sie Punkt 2, wenn das nicht klappt, Punkt 3 – und wenn das alles nicht klappt, dann ist der Patient sowieso psychisch krank. Das hat für mich nichts mit guter Medizin zu tun! Allein schon genetisch sind wir vollkommen unterschiedlich ausgerüstet. Nehmen Sie beispielsweise den Bereich der Entgiftungsenzyme. Die wichtige Glutathion-S-Transferase M1 ist bei fast 50 % der Deutschen nur mangelhaft vorhanden. Das heißt, die Hälfte unserer Bevölkerung entgiftet mit diesem Enzym schlecht. Ein weiteres wichtiges Entgiftungsenzym, das GSTT1, kommt bei 30 % der Bevölkerung nur mangelhaft vor. Und allein daran sieht man ja schon, dass manche Menschen von Haus aus mit bestimmten Belastungen schlechter umgehen können. Ärztlich verursachte Umweltbelastungen Auch medizinische „Fremdstoffe“ wie beispielsweise Implantate lösen bei einigen Menschen heftige Immunreaktionen aus, während andere vollkommen gesund bleiben. Das stimmt! Auch wir Ärzte tragen durch das Einbringen von Fremdmaterialien zu nicht unerheblichen Umweltbelastungen bei. Die Zahnärzteschaft beginnt immer mehr, sich dieser Problematik bewusst zu werden, und es gibt Strömungen, die sich intensiv mit patientenorientierten Lösungen befassen. Die Orthopädie aber, die das eigentlich genauso betrifft, und auch die Transplantations-Chirurgie, beschäftigen sich leider noch zu wenig damit. Sie tun sich z. B. schwer damit zu verstehen, dass Titan eben kein reaktionsloses Material ist, sondern sehr wohl immunologische Störungen auslösen kann. Was man dabei begreifen muss, ist, dass unser Immunsystem seine Handlungsweise stets unter dem Aspekt „vertraut oder fremd“ entscheidet. Und so geht es auch bei den Metallen hin und fragt sich: „Ist das ein Metall, das ich kenne?“ Denn es wendet sich ja nicht prinzipiell gegen alle Metalle. Unser Immunsystem weiß z. B. sehr genau, dass wir Zink brauchen, Selen, Magnesium etc. Aber in dem Moment, wo ein Metall als „fremd“ erkannt wird, setzt bei manchen Patienten eine entzündliche Reaktion ein. Und darum können Titan-Endoprothesen sehr wohl die Ursache für stille Entzündungen sein. Ich habe sogar Patienten erlebt, die entzündlich auf ihren Stent reagiert haben. Die meisten Kardiologen stellen sich bis heute aber gar nicht die Frage, warum ihre Titan-Stents mit immunhemmenden Stoffen beschichtet sind, wo doch das Titan angeblich so gut verträglich ist. Doch leider hemmt die Beschichtung meist nur für rund 2 Jahre. Danach kann eine einsetzende Unverträglichkeitsreaktion sehr wohl zu erneuten Stent-Verschlüssen führen. Würde man hingegen körpereigenes Material, z. B. eigene Gefäße, verpflanzen, wäre das mit einem deutlich geringeren Risiko für den Patienten verbunden. Aber das wäre natürlich aufwendiger und teurer. Nach allem, was Sie bisher geschildert haben, scheinen Entzündungsprozesse im Rahmen von Umweltbelastungen eine Schlüsselrolle zu spielen – egal ob sie durch elektromagnetische Wellen oder Fremdstoffe wie z. B. Metalle ausgelöst werden. Gibt es ein entsprechendes Beschwerdebild, das bei den Erkrankten besonders häufig auftritt? Ja, ein ganz großer Schwerpunkt der meisten Umwelterkrankungen ist diese wirklich sehr tiefgreifende Erschöpfung. Wenn ein Immunsystem entzündlich aktiviert wird und das chronisch bleibt, was bei den meisten Umwelteinflüssen ja der Fall ist, dann sind die Patienten durch den ständigen Energieverbrauch, den sie durch die Immunaktivierung haben, permanent müde und erschöpft. Hinzu kommt, dass die Mitochondrien, die Kraftwerke einer jeden Zelle, besonders leicht durch Umweltschadstoffe gestört werden und nicht mehr in dem Maße Energie produzieren können, wie es eigentlich benötigt wird. Und dadurch macht sich dann auch Stress im Alltag unangenehmer bemerkbar, denn jede Form von Stress treibt den Energieverbrauch noch zusätzlich in die Höhe. Entzündungen und Depressionen Apropos Stress: In den letzten 30 Jahren ist auch der Gebrauch von Psychopharmaka massiv in die Höhe geschnellt. Sehen Sie hier ebenfalls mögliche Zusammenhänge zu Umwelteinflüssen? Was wir erkannt haben, ist, dass Entzündungsprozesse, wie sie besonders häufig durch Umweltfaktoren ausgelöst werden, teils außeror-dentlich stark in den Tryptophan-Stoffwechsel eingreifen – das ist eine Aminosäure, die bei der Lenkung unseres psychischen Befindens eine zentrale Rolle spielt. Für mich ist die Diagnose Depression daher keine echte Diagnose, sondern vielmehr ein Symptom. Wenn ein Patient depressiv ist, hat er das Symptom Depression, und mir als Arzt stellt sich die Herausforderung, herauszufinden, was in diesem speziellen Fall die Ursache für seine Niedergeschlagenheit, seine Antriebslosigkeit, seine Freudlosigkeit ist. Und wenn man die Ursache beseitigt hat, was durchaus auch eine verweilende Endoprothese im Körper sein kann, dann braucht der Patient möglicherweise weder Psychopharmaka noch Psychotherapie. Ich finde es skandalös, dass sich die gesamte Psychiatrie dieser Erkenntnisse bis heute nicht bedient. Im Gegenteil: Wenn man sich den Psychopharmaka-Markt anschaut, ist es geradezu erschreckend: Derzeit sollen mindestens 6 Millionen Menschen unter der ständigen Einnahme von Psychopharmaka stehen, die noch dazu kaum Effekte zeigen. Ganz zu schweigen von den hohen Kosten, die dadurch verursacht werden – einerseits durch den Arzneimittelgebrauch selbst, andererseits auch durch die sozialen Folgen, weil Fehlzeiten im Arbeitsmarkt etc. entstehen. Und das Leid? Das persistiert weiter! Aber ist es denn überhaupt möglich, derartig komplexe Zusammenhänge wie jenen zwischen Entzündungen und Depressionen diagnostisch eindeutig nachzuweisen? Da hat sich in den letzten Jahren wirklich viel getan, und wir haben gute Möglichkeiten, solche Zusammenhänge auch objektiv darzustellen. Der Tryptophan-Stoffwechsel beispielsweise ist in seinen ganzen differenzierten Entgleisungen bestens untersuchbar. Da spielt u. a. der Kynurenin-Stoffwechsel eine große Rolle, ebenso wie die Mikroglia im Gehirn – und diese Faktoren können wir objektiv messen. Ein Faktor, der das psychische Befinden ebenfalls stark verändern kann, ist die Quinolinsäure, die oftmals im Darm gebildet wird, wenn die Darmflora nicht stimmt. Und auch für das Immunsystem gibt es mittlerweile gute diagnostische Nachweise. Wir können alle einzelnen Abteilungen auf ihre spezielle Leistung hin prüfen: Wie verhalten sich z. B. die Makrophagen gegenüber der Umwelt, die Helferzellen T1, die Helferzellen T2? Weiterhin können wir die Mitochondrien, die Energiezentren, exzellent untersuchen: Wie produzieren sie Energie, auf welche Weise verlieren sie aber auch Energie, und wie werden sie strukturell geschädigt? Es gibt spezielle Labore, die solche Untersuchungen für jeden niedergelassenen Arzt anbieten. Das heißt: Wir könnten längst für jeden Patienten maßgeschneiderte Diagnostik anbieten, die Ursachen klären und orientiert an den Erkenntnissen therapieren. Doch leider wird die Umweltmedizin bis heute im Gesundheitswesen weitgehend ignoriert. Die natürlichen Möglichkeiten ausschöpfen Dabei wäre eine individualisierte Medizin nicht nur humaner, sondern vermutlich auch deutlich kostengünstiger? Die Kosten der Diagnostik, die vordergründig anfallen, werden durch das spätere Ausbleiben der noch sehr viel höheren Behandlungskosten mehr als kompensiert, ja! Doch derzeit hat so ein Denken im Gesundheitswesen leider keinen Platz – schon gar kein präventives Denken. Wir belohnen nicht den, der Krankheit verhindert, sondern den, der hinterher die meisten Patienten behandelt. Dadurch wird der Kranke zum Markt, und es gibt kein Interesse, diesen Markt zu zerstören – vonseiten der Pharmaindustrie schon gar nicht. Denn auch die therapeutischen Maßnahmen, die wir als Umweltmediziner anwenden, basieren ja überwiegend auf natürlichen Wirkstoffen. Uns geht es um die natürliche Lenkung physiologischer Abläufe im Körper – und das schaffen wir mit relativ einfachen Maßnahmen, an denen die Pharmaindustrie eben nichts verdient. Von daher ist unser Fachbereich auch nicht Gegenstand eines generellen Konzepts im Gesundheitswesen. Und das, obwohl die Umweltmedizin nicht nur präventiv, sondern auch therapeutisch vielversprechende Behandlungsmöglichkeiten zu bieten hat! Auf jeden Fall. Die Umweltmedizin umfasst ein breites Feld sehr rationaler und komplikationsarmer Therapien. Das Allererste ist natürlich immer die Beseitigung der Erkrankungsursache. Das bedeutet meist, bestimmte Dinge nicht mehr zu tun, die Lebensgestaltung zu ändern, evtl. sogar den Wohnort oder Arbeitsplatz zu wechseln. Bei Metallbelastungen werden häufig auch Ausleitungsbehandlungen durchgeführt. Da gibt es sehr gute natürliche Substanzen, mit denen man das machen kann. Bei sehr geschwächten Patienten kommt oft auch eine Apherese-Behandlung zum Einsatz, bei der das Blut außerhalb des Körpers von krankmachenden Umweltgiften befreit und dem Patienten anschließend wieder zugeführt wird, sodass der Organismus quasi passiv entgiftet wird. Und wenn man sich dabei das Blutplasma der Patienten näher anschaut, dann sieht man überhaupt erst mal, welch immense Mengen an Schadstoffen sich im Laufe eines Lebens anreichern können – und dass toxikologische Grenzwerte eben gar nicht schützen! Allerdings kann eine Apherese einen einmal entstandenen Schaden im Körper nicht reparieren, das muss man ganz klar sagen. Es wird lediglich der Schädiger entfernt. Für die Reparatur selbst gibt es dann andere Möglichkeiten: Mitochondrien z. B. können wir inzwischen wieder gut regenerieren. Wir können auch Membranen und Rezeptorsysteme im Körper mit natürlichen Wirkstoffen reparieren – ein Thema, das bei Umwelterkrankungen immens wichtig ist, denn Schädigungen der Membranen sind relativ häufig. Und im Bereich der psychischen Symptome müssen wir natürlich zunächst die zugrunde liegenden Entzündungsfaktoren klären, um anschließend die funktionellen Regelkreise für psychisches Befinden wieder zu regulieren. Z. B. können wir ein zu hohes Glutamat-Angebot bremsen oder auch Rezeptoren wie den NMDA-Rezeptor schützen – all das sind Dinge, die wir mit natürlichen Substanzen tun können. Das heißt, die Umweltmedizin greift im Rahmen ihrer Therapieverfahren auch stark auf naturheilkundliche Behandlungsmöglichkeiten zurück? Selbstverständlich! Meiner Meinung nach sollte es die Pflicht von uns Ärzten sein, zunächst die natürlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. Pharmakologische Eingriffe dürfen erst dann erfolgen, wenn die natürlichen Verfahren ausgeschöpft sind. Wenn wir das zur Vorschrift machen würden, wären wir in unserem Gesundheitssystem schon ein gutes Stück weiter! Herr Dr. Müller, herzlichen Dank für das Gespräch! Angela Lieber Über die Autorin Angela Lieber ist seit 2016 Redakteurin und Autorin bei NATUR & HEILEN. Ihr Schwerpunkt sind Interviews mit namhaften Gesprächspartnern zu Themen unserer Zeit. Literatur • Kurt E. Müller: Wenn der Staat der Pate ist. Im Spannungsfeld von ökonomischen Interessen und medizinischen Notwendigkeiten. Novum Pro Verlag, 2021.

Der Artikel "„Leider wird die Umweltmedizin bis heute weitgehend ignoriert!“" ist Teil der Audio-Ausgabe Oktober 2024

„Leider wird die Umweltmedizin bis heute weitgehend ignoriert!“

Editorial Oktober 2024 · Sein volles menschliches Potenzial ausschöpfen · „Leider wird die Umweltmedizin bis heute weitgehend ignoriert!“ · „Organ heilt Organ“ · Der Yager-Code · Morbus Parkinson · Galgant · Die Blüten am Abend · PLUS: Die komplette Ausgabe in einem Track

Sie haben diese Audio-Ausgabe bereits gekauft oder sind AboPlus Abonnent*in? Bitte loggen Sie sich ein.

NATUR & HEILEN
Geschenk-Abo

Verschenken Sie wohltuende Lesemomente und überraschen Sie einen lieben Menschen!

Sammelbox

Der Artikel "„Leider wird die Umweltmedizin bis heute weitgehend ignoriert!“" ist Teil der Audio-Ausgabe Oktober 2024

„Leider wird die Umweltmedizin bis heute weitgehend ignoriert!“

Editorial Oktober 2024 · Sein volles menschliches Potenzial ausschöpfen · „Leider wird die Umweltmedizin bis heute weitgehend ignoriert!“ · „Organ heilt Organ“ · Der Yager-Code · Morbus Parkinson · Galgant · Die Blüten am Abend · PLUS: Die komplette Ausgabe in einem Track

Sie haben diese Audio-Ausgabe bereits gekauft oder sind AboPlus Abonnent*in? Bitte loggen Sie sich ein.

NATUR & HEILEN Geschenk-Abo

Verschenken Sie wohltuende Lesemomente und überraschen Sie einen lieben Menschen!

Wollen Sie die Audio-Ausgabe Oktober 2024 jetzt freischalten?

Sammelbox

NATUR & HEILEN
Geschenk-Abo