RSV-Atemwegsinfektionen

In der Wintersaison 2021/22 wie auch im Folgeherbst 2022 hat es in Deutschland eine spürbare Zunahme an Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) gegeben. Infolgedessen wurde im Juli 2023 eine Meldepflicht für RSV-Infektionen eingeführt, ebenso im Juni 2024 eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) zur Passivimmunisierung aller Neugeborenen. Antje Maly-Samiralow hat für NATUR & HEILEN mit dem Kinderarzt und Sprecher der Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung e. V. (ÄFI) Dr. Alexander Konietzky über die Ursachen des Krankheitsanstiegs, die in der Regel geringe Gefährlichkeit des Virus, die überflüssige Meldepflicht und die Risiken der RSV-Impfung gesprochen. Interview mit dem Facharzt für Kinderheilkunde Dr. Alexander Konietzky Dr. Konietzky, Sie sind niedergelassener Kinderarzt. Wie viele Kinder mit RSV-Infektionen sehen Sie durchschnittlich im Jahr? Ich war vor meiner jetzigen Tätigkeit in einer großen Gemeinschaftspraxis tätig, mit etwa 10.000 Patientenkontakten pro Arzt und Jahr. In der RSV-Saison, die erfahrungsgemäß von Oktober bis April dauert, sahen wir insgesamt etwa 5 bis 10 Kinder pro Woche mit einem derartigen Infekt. In der Hochphase im Februar stieg das auf ca. 30 Fälle an, sodass wir über die gesamte Saison bei etwa 300 Kindern einen RSV-Infekt diagnostiziert haben. Das klingt nach einer eher geringen Prävalenz? Das täuscht insofern, als dass die meisten Kinder diese Erkrankung ohne nennenswerte Beschwerden durchmachen. Das Respiratorische Synzytial-Virus ist ein typisches Erkältungsvirus, das die oberen Schleimhäute, also die Nase und ggf. den Rachenraum sowie die oberen Bronchien befällt, wo es dann Schnupfen, Husten und bei Befall des Kehlkopfs auch Heiserkeit auslösen kann und durchaus auch Fieber macht. In der Regel wie EINE KLASSISCHE Erkältungskrankheit Heißt das, dass Sie die meisten Patienten gar nicht sehen? Bis zum Schulalter haben etwa 97 % aller Kinder diese Erkrankung durchgemacht, die meisten in den ersten drei Lebensjahren. Das ist die Zeit, in der Kleinkinder viele Erkältungskrankheiten durchmachen und – Eltern können ein Lied davon singen – ständig mit einer laufenden Nase nach Hause kommen. Von daher ist eine RSV-Infektion nur schwerlich von anderen Erkältungen, etwa durch Rhinoviren oder Paramyxoviren, zu unterscheiden. RSV zählen zweifelsohne mit zu den Erregern, die in der Infekt-Saison regelhaft Atemwegsinfekte verursachen. Das sind meist Infekte, die in der Regel keiner Therapie bedürfen außer den klassischen Anwendungen, die schon unsere Großmütter beherzigt haben, also Bettruhe, viel trinken und bei hartnäckigen Verläufen vielleicht eine Befeuchtung der oberen Atemwege durch Inhalation mit dem klassischen Hausmittel Salz sowie mit Salbei und Thymian zum Abschwellen und Abtransport des Schleims. Gibt es darüber hinaus Medikamente, deren Anwendung Sie Eltern anraten würden? Salbutamol und Atrovent sind Medikamente, die vom Arzt verordnet in einen speziellen Ultraschall-Vernebler gegeben werden können. Diese Medikamente wirken bronchienerweiternd und entlasten die oberen Atemwege, was insofern Sinn machen kann, als dass man durch die Verbesserung der Belüftung verhindern kann, dass sich auf die virale Infektion noch eine bakterielle setzt. Aber wie gesagt: In der Regel heilen die Infekte von allein aus, wenn man dem Kind die Ruhe einräumt, die sein Immunsystem dafür braucht. Schwere Infektionen vor allem bei Früh- und Neugeborenen Ab welchem Schweregrad werden weiterreichende Therapien notwendig? Bei schweren Verläufen sind nicht mehr nur die oberen Atemwege betroffen, sondern auch die unteren. Früh- und Neugeborene sind hierfür grundsätzlich anfälliger als größere Kinder, weil ihre Bronchien noch nicht vollständig ausgereift sind, ebenso wie die Darmflora erst nachgeburtlich im Aufbau begriffen ist oder weite Teile des zentralen Nervensystems. Ein Neugeborenes muss ja nicht nur wachsen, sondern viele Strukturen erst noch entwickeln und regulieren. Und wenn es in diesem frühen und vulnerablen Stadium mit einem RS-Virus konfrontiert wird, dann kann es durchaus zu schweren Infektionen kommen, die dann auch leichter den Gasaustausch in den Lungen behindern können. Das Problem des RS-Virus ist, dass es die Epithelzellen der Bronchiolen befällt, die den Luftwegtrakt am Ende des Bronchialbaums auskleiden. RS-Viren nutzen sie als Wirtszellen, um sich zu vermehren. Und jetzt kommt das Besondere und auch das Gemeine dieser Viren, wenn Sie so wollen: Auf ihrer Oberfläche tragen sie ein Fusionsprotein, das Membranprotein F, das in der Lage ist, die Zellwände, also die Membranen zwischen den Epithelzellen, aufzubrechen und sie zu verschmelzen, zu fusionieren. Das ist der Synzytial-Effekt, dem das Virus seinen Namen verdankt: die Verschmelzung oder Verklumpung mehrerer Zellen zu größeren Zellkonglomeraten. Und infolge dieser Fusion oder Verklumpung schwillt das Zellgewebe an. Wie bei jeder anderen Atemwegsinfektion auch, oder? Eben nicht. Durch besagtes Protein werden die Zellstrukturen schwer geschädigt, sodass eine Art Riesenzelle entsteht, die ihre Spannung nicht mehr sauber halten kann. Dieser Vorgang verursacht letztlich die massive Schwellung. Bei einer herkömmlichen Infektion, etwa mit Rhinoviren, ist die Schwellung eine Folge der normalen und gesunden Immunreaktion. Das Immunsystem braucht Gewebswasser, um entzündungsfördernde oder im späteren Stadium entzündungsregulierende Botenstoffe nebst Killerzellen, Fresszellen usw. zum Ort der Infektion zu transportieren. Das ist eine klassische Entzündungsreaktion, die mit einer Schwellung einhergeht und die abklingt, sobald das Immunsystem seinen Dienst versehen und die Erreger abgetötet hat. Bei einer klassischen Entzündungsreaktion kann bei Bedarf Cortison eingesetzt werden, um die immunbedingte Schwellung zu reduzieren, weil Cortison vor allem die Entzündung dämpfen hilft und damit indirekt das Wasser aus den Zellverbänden abtransportiert wird. Bei schweren RSV-Infektionen aber erzielt man keine wesentlichen Effekte mit Cortison. Erfolgreiche Sauerstofftherapie Wie behandeln Sie solche Kinder dann? Das gesundheitliche Risiko, in dem sich diese Kinder befinden, ist primär eine erhebliche Sauerstoffunterversorgung. Die Sauerstoffsättigung, die bei Neugeborenen und Säuglingen normalerweise zwischen 94 und 98 % liegt, rutscht bei schweren Bronchialinfekten auf 93, 92, in besonders schweren Fällen auch unter 90 % ab. Das führt zunächst zu einer deutlich erhöhten Atemarbeit mit einer zunehmenden Erschöpfung. Dies kann in seltenen Fällen schwerwiegende Folgeschäden nach sich ziehen und auch zum Tod führen. Deshalb müssen wir die Sauerstoffversorgung des Patienten gewährleisten, und zwar durch eine zusätzliche Sauerstoffgabe. Meistens bekommen die kleinen Patienten ein Luftgemisch in die Nase mit deutlich höherer Sauerstoffsättigung, die – je nach Ausprägung der Sauerstoffunterversorgung – bis zu 50 % und in seltenen Fällen auch 100 % betragen kann. Damit erhöhen wir den Partialdruck für Sauerstoff und überwinden so die Bereiche, die aufgrund der Infektion geschädigt sind, sodass der Sauerstoff dahin kommt, wo er benötigt wird, nämlich in die Lungenbläschen, von wo aus er – vereinfacht gesagt – ins Blut abgegeben wird. Wie erfolgreich ist diese Sauerstofftherapie? Sehr erfolgreich. Damit gelingt es uns, die Sauerstoffunterversorgung zu beheben und den Kindern die Zeit und die Chance zu geben, selbst die Infektion immunologisch abzuarbeiten und zu gesunden. Haben Sie je erleben müssen, dass ein Kind die Infektion trotz Sauerstofftherapie nicht überlebt? Ich bin seit 2006 niedergelassen und habe vorher in der Kinderklinik gearbeitet und dort meine Facharztausbildung absolviert. Ich persönlich habe kein Kind an einem RSV-Infekt versterben sehen. Die Case Fatality Rate, also die Anzahl der Verstorbenen gemessen an der Zahl der Infizierten, ist mit 0,005 % bei gesunden Kindern für Deutschland pro Jahr extrem niedrig. Bei Frühgeborenen kann diese Zahl auf 1,2 % steigen, und bei Kindern mit einem angeborenen Herzfehler liegt sie bei 5,2 %. Das sind Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) von 2018. Sie sehen also, schon innerhalb der Erkrankungspopulation variiert diese Zahl abhängig von den Begleiterkrankungen oder Grundvoraussetzungen deutlich. Gestiegene Fallzahlen aufgrund von immunologischer Schwächung Nun gibt es seit Juli 2023 eine Meldepflicht für RSV-Infektionen, und es gibt seit Juni 2024 eine Empfehlung der STIKO zur Passivimmunisierung aller Neugeborenen in der ersten RSV-Saison. Wie ordnen Sie diese Entwicklung ein? Dazu muss man zunächst sagen, dass wir sowohl in der RSV-Saison 2021/22 als auch im Folgeherbst 2022/23 eine spürbare Zunahme an RSV-Infektionen gesehen haben. Das war sicher zum einen eine Art Nachholeffekt, nachdem Kinder infolge der Lockdowns, Schul- und Kita-Schließungen quasi eine ganze Saison in einem fast erregerfreien Raum gelebt haben. Das, was normalerweise passiert, ist ja, dass sie sich in der Kita wiederkehrend anstecken und dann entsprechend Antikörper bilden. Das ist ausgeblieben. Wir haben also all die Kinder gesehen, die mit einem Jahr oder zwei Jahren Verspätung erstmals Kontakt mit dem RS-Virus hatten. So weit, so normal. Wir haben aber in diesen beiden Herbstverläufen auch ältere Kinder im Alter von 4 bis 6 Jahren ohne Vorerkrankungen gesehen, also ausdrücklich keine Risikopatienten, die so schwere Infektionen entwickelt haben, dass wir sie in die Klinik einweisen mussten, damit sie über Nacht mit Sauerstoff versorgt und beobachtet werden konnten. Das hat es in dieser Ausprägung meines Wissens noch nie gegeben. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung? Ein Kind, das eine RSV-Infektion durchgemacht hat, bildet Antikörper und hat darüber hinausgehend einen Schutz über die Gedächtniszellen. Das heißt: Bei erneuter Konfrontation mit dem Virus reagiert entweder das Immunsystem und hält die Erreger gleich auf der obersten Ebene, den Nasenschleimhäuten, ab, oder es kommt zu einer leichten Infektion mit milden Symptomen. Das Immunsystem will aber nicht nur aufgebaut, es will auch trainiert werden. Deshalb sind die ersten Lebensjahre in der Tat die Aufbau- und Trainingsphase für das Immunsystem. Wenn Sie Kinder – und für Erwachsene gilt das nicht minder – in einem keimfreien Raum halten und alle Krankheitserreger ausschließen, dann gerät das Immunsystem aus der Routine in der Bekämpfung von Viren und Bakterien, und es reagiert stärker als eigentlich nötig. Wenn man dann wieder mit Erregern konfrontiert wird, ist die Abwehr mitunter partiell so aus der Übung, dass es zu schweren Infekten kommen kann – und genau das haben wir gesehen. Das ist eine Art immunologischer „Kaspar-Hauser-Effekt“, der mit einer verminderten Immunkompetenz einhergeht und im schlimmeren Falle die Weichen stellen kann für Allergien und Autoimmunerkrankungen, da ein gelangweiltes Immunsystem, das keine Erreger in Schach halten muss, sich durchaus in eine Allergie-Entwicklung hineinbewegen oder sich gegen körpereigene Strukturen richten und chronisch-entzündliche Erkrankungsmuster auslösen kann. Überflüssige Meldepflicht Das heißt, die der Meldepflicht vorausgegangenen Saisons sind auf eine immunologische Schwächung der Kinder und eine daraus resultierend gestiegene Infekt-Häufigkeit zurückzuführen? Das würde ich als die wesentliche Ursache betrachten. Das Problem sind nicht etwa aggressivere Virenvarianten – RSV-Viren sind äußerst stabil und mutieren kaum –, sondern immunologisch unvorbereitete Patienten. Die Meldepflicht als solche halte ich allerdings noch aus einem grundsätzlichen Grund für überflüssig: Trotz der gestiegenen Fallzahlen und trotz gehäuft aufgetretener schwerer Verläufe haben wir keine nennenswerten Infektionsketten gesehen. Es war keineswegs so, dass ein betroffenes Kind die ganze Familie, die Geschwister oder die Großeltern angesteckt hat. Und das ist ja eigentlich der Hauptgrund für eine Meldepflicht. Es geht darum, eine potenzielle epidemische Ausbreitung im Auge zu behalten, um ggf. vorbeugen bzw. reagieren zu können. Allerdings wurde das bislang über die an das RKI meldenden ausgewählten Praxen (Sentinelpraxen) und Kliniken geleistet, d. h., wir hatten bereits ein gut funktionierendes Frühwarnsystem für den Saisonbeginn der RSV-Infektionen. Impfung für Neugeborene ohne Risikofaktoren unnötig Die STIKO empfiehlt die Passivimmunisierung, die bislang nur bei Risiko-Kindern angewandt wurde, nun auch für alle Neugeborenen. Wie beurteilen Sie diese Empfehlung? Die bisherige Regelung, so wie wir sie auch in der Praxis gehandhabt haben, war aus meiner Sicht sinnvoll und zielführend. Bislang haben wir Eltern empfohlen, ihre Neugeborenen zu immunisieren, wenn sie ein erhöhtes Risiko getragen haben, eine schwere RSV-Infektion zu erleiden. Das sind neben Frühgeborenen vor allem Kinder mit einer bronchopulmonalen Dysplasie, also einer angeborenen Fehlbildung der Lungen, immundefiziente Kinder oder Kinder mit Herzfehlern. Auch der Geburtszeitpunkt innerhalb des Jahres macht einen wesentlichen Unterschied aus. Ein im Mai geborenes und nicht extremes Frühchen, das über die Sommermonate Zeit hat, sich zu entwickeln, verfügt mit Beginn der Saison im Oktober vielleicht schon über hinreichend stabile Bronchien und ein hinreichend kompetentes Immunsystem, sodass eine eventuelle Infektion keine Gefahr mehr darstellt. Liegt der Geburtstermin eines Frühgeborenen hingegen im Juli oder gar erst im September, ist das Risiko deutlich höher, und in einem solchen Fall würde ich auch zu einer Passivimmunisierung raten. Wogegen immunisiert der Antikörper konkret? Bei dem seit Juni 2024 von der STIKO empfohlenen Vorgehen handelt es sich um einen monoklonalen Antikörper mit dem Namen Nirsevimab, der an das bereits erwähnte Membranprotein F bindet, wodurch das Aufbrechen der Epithelzellen und die Verschmelzung zu Zellklumpen verhindert wird. Darüber hinaus wird so verhindert, dass sich das Virus vermehren kann. Kinder erhalten mit Nirsevimab direkt Antikörper und müssen diese nicht erst im Zuge einer Infektion selbst bilden. Die STIKO geht von einer Wirkungsdauer von mindestens 6 Monaten aus, womit quasi die gesamte RSV-Saison überbrückt werden soll. Inwiefern unterscheidet sich dieser Antikörper von der bisherigen Passivimmunisierung? Der bislang eingesetzte Antikörper Palivizumab, der seit 1999 für die passive Immunisierung gegen RSV zugelassen ist, musste monatlich gegeben werden, also innerhalb der Saison evtl. bis zu 6-mal. Nirsevimab wird hingegen als Einmaldosis verabreicht, entsprechend den Empfehlungen der STIKO direkt nach der Geburt, bei Verlassen des Krankenhauses, sofern das Kind in der RSV-Saison geboren wurde. Säuglinge, die zwischen April und September geboren wurden, sollen vor der ersten RSV-Saison geimpft werden, also idealerweise im Herbst. Der gravierende Unterschied ist aber nicht der Antikörper als solcher, sondern die Empfehlung, die sich an alle Neugeborenen richtet, auch an alle gesunden – und das sehe ich in mehrfacher Hinsicht kritisch. Daten zu langfristigen Nebenwirkungen fehlen Könnten Sie das bitte ausführen? Zum einen sehe ich keine Notwendigkeit, Säuglinge oder Neugeborene ohne nennenswerte Risikofaktoren prophylaktisch zu behandeln, wenn diese Erkrankung in den allermeisten Fällen nur mit milden Symptomen einhergeht und wir die Kinder mit schweren Verläufen ebenfalls in den allermeisten Fällen sehr gut behandeln können. Zum anderen wird entsprechend der Zulassungsstudie das absolute Risiko einer Hospitalisierung infolge der Infektion gerade einmal um 1 % reduziert. Die Effektivität der Prophylaxe war in der Zulassungsstudie für Nirsevimab bei jüngeren Kindern unter dem 3. Lebensmonat niedriger als bei älteren, und bei leichtgewichtigen Säuglingen unter 5 kg Körpergewicht niedriger als bei schwereren Säuglingen – also just bei jenen Kindern, die in höherem Risiko stehen und die man eigentlich schützen will. Dies geben die Studienautoren selbst als Limitation an. Bislang haben wir zudem keine Daten zu langfristigen Nebenwirkungen. Nirsevimab wurde erst 2022 von der EMA (European Medicines Agency), der europäischen Zulassungsbehörde, für alle Säuglinge zugelassen. Impfung führt zu vermehrtem Antibiotika-Einsatz Zudem würde ich gern noch auf ein weiteres Nebenwirkungsspektrum dieser Passivimmunisierung zu sprechen kommen, das kaum in den Blick genommen wird. Zu den bekannten Nebenwirkungen zählen Rötungen und Schmerzen an der Einstichstelle – so wie das auch bei anderen Impfungen auftritt –, aber eben auch Fieber bei rund 10 % der immunisierten Kinder. Nun muss man wissen, dass auf dem vaginalen Geburtsweg Neugeborene vor allem in den ersten drei Lebensmonaten ein erhöhtes Risiko für eine Neugeborenen-Sepsis haben. Die wodurch hervorgerufen wird? Das Kind nimmt während der Passage durch den Geburtskanal quasi die dort ansässigen Bakterien der Mutter auf. Das ist insofern wichtig, als dass dieser erste Kontakt mit Erregern den Grundstein für den Aufbau der Darmflora legt, aber eben auch für das Immunsystem. Allerdings – und das ist die Kehrseite der Medaille – können auch pathogene Erreger mitaufgenommen werden und über die Zeit eine kritische Schwelle überschreiten. Neugeborene verfügen noch nicht über die Fähigkeit einer ausreichenden Kompartimentierung, d. h., im Fall einer Entzündung verbleiben die Bakterien nicht an Ort und Stelle, sondern sie verbreiten sich im ganzen Körper. Deshalb ist Fieber immer ein Alarmsignal und muss während der ersten drei Lebensmonate ärztlich vorgestellt werden. Und hier wird es nun kompliziert für Kinderärzte wie mich: Bei einem Neugeborenen weiß ich nicht, woher das Fieber kommt: ob es sich um eine Entzündung handelt, die schnellstmöglich behandelt gehört, oder um – nach Passivimmunisierung mit Nirsevimab – eine Immunisierungsreaktion. Um auf Nummer sicher zu gehen, werden solche Kinder dann vorsorglich zur Kontrolle eingewiesen und stationär überwacht. Es wird Blut abgenommen, und nach meinen persönlichen Erfahrungen aus der Kinderklinik werden Säuglinge mit unspezifischem Fieber ebenfalls prophylaktisch mit zwei intravenös zu verabreichenden Antibiotika behandelt. Raten Sie von Antibiotika-Gaben in diesem frühen Stadium ab? Wenn tatsächlich eine bakterielle Infektion vorliegt, müssen wir Antibiotika geben, um eine Sepsis zu verhindern oder zu behandeln. Das Zeitfenster ist sehr klein, und man muss schnell reagieren. Kein vernünftiger Arzt wird das Risiko einer Sepsis eingehen wollen. Nur im Fall einer Immunisierungsreaktion werden Kinder – und 10 % von jährlich 770.000 Neugeborenen sind immerhin 77.000, die dann vielleicht mit Fieber beim Arzt und ggf. in der Klinik vorstellig werden – einer völlig überflüssigen Antibiotika-Therapie unterzogen. Heißt das, Ärzte behandeln, ohne die genaue Ursache des Fiebers zu kennen, auf Verdacht? Ja, das ist die Praxis, die aus medizinischer Sicht auch nachvollziehbar ist, aber für die Kinder mit erheblichen Risiken einhergeht. Ein Neugeborenes verfügt noch nicht über ein stabiles Mikrobiom. Das muss sich erst entwickeln. Wenn Sie die noch junge Besiedelung des Darms mit Antibiotika stören oder gar zerstören, dann kann das Verdauungsstörungen und Nahrungsunverträglichkeiten bis hin zu einer Immunschwächung nach sich ziehen, weil die Kommunikation der Darmbakterien mit dem ebenfalls im Aufbau befindlichen Immunsystem behindert wird. Was passiert eigentlich, wenn die Wirkung der verabreichten Antikörper nachlässt oder ganz abebbt, bei einer Re-Infektion in der nächsten Saison? Dann haben die Kinder keine Antikörper mehr, weil sie sie ja nicht selbst gebildet haben, und müssen sie bei diesem ersten RSV-Kontakt, den sie spätestens in der Kita haben, nachholen. Allerdings haben sie dann – das muss man klar einräumen – die für sie vulnerable Zeit der ersten Lebensmonate überwunden. Immense Kosten fürs Gesundheitssystem Bislang wurden die Immunisierungen für Risiko-Kinder von den Krankenkassen übernommen. Und jetzt werden sie durch die STIKO-Empfehlung für alle Säuglinge übernommen, richtig? Das ist richtig. Aber das hätte man auch anders lösen können, indem man die Passivimmunisierung für Risiko-Kinder weiterhin und von mir aus auch mit dem neuen Präparat übernimmt. Das wäre bei Anpassung der Preise ggfs. noch kostenneutral möglich gewesen. Jetzt aber werden die Krankenkassen mit jährlich rund 200 Millionen Euro belastet, wohlgemerkt, um eine Reduzierung des absoluten Risikos für eine Hospitalisierung um 1 % zu erzielen. Das sind Gelder, die an anderer Stelle fehlen werden. Und zu den direkten Kosten kommen die schon aufgezeigten Kosten nachgelagerter Diagnostik und ggfs. stationärer Behandlung aufgrund einer Fieberentwicklung, die noch gar nicht eingepreist sind. Erhöhtes Risiko von Frühgeburten nicht auszuschließen Zugelassen sind auch Aktivimpfstoffe, die sowohl älteren bzw. vorgeschädigten Erwachsenen verabreicht werden können, einer davon Schwangeren. Empfehlen Sie schwangeren Frauen, ihre Neugeborenen auf diesem Weg zu schützen? Ich bin eher nicht der erste Ansprechpartner für schwangere Frauen. Mit dieser Frage werden sich Gynäkologen und Gynäkologinnen beschäftigen müssen. Wir sprechen hier vom Impfstoff Arexvy von GlaxoSmithKline, der bereits im Mai 2023 von der EMA zugelassen wurde, für den es allerdings von der STIKO keine Empfehlung für Schwangere gibt, weil die Rate der Frühgeburten nach Impfung in den Zulassungsstudien deutlich erhöht war, etwa um das Fünffache. Arexvy sowie das Konkurrenzprodukt der Firma Pfizer mit dem Markennamen Abrysvo hat die STIKO als Standardimpfung sowohl für Menschen über 75 Jahren als auch für Menschen ab 60 Jahren mit Grunderkrankungen zur Reduktion von schweren Verläufen von RSV-Infektionen empfohlen. Auch Abrysvo ist für die Impfung von Schwangeren zugelassen, wodurch ein Nestschutz der Neugeborenen generiert werden soll. Über die Plazenta werden dabei von der Schwangeren gebildete Antikörper an den Fötus weitergegeben. Die Studiendaten weisen allerdings keine nennenswerte Wirksamkeit aus. So liegt die absolute Risikoreduktion, dass ein Kind innerhalb von 90 Tagen eine schwere RSV-Infektion entwickelt, nur bei 0,76 %. Hinzu kommt, dass die bei Arexvy beobachtete Häufung von Frühgeburten auch für Abrysvo nicht auszuschließen ist, weil die Impfstoffe ähnlich zusammengesetzt sind. Sollte es also durch eine Verabreichung dieser aktiven Impfstoffe in der realen Welt zu vermehrten Frühgeburten kommen, produzieren wir die Risikogruppe für diese Art der Infektion zunehmend selbst, denn Frühgeborene haben nun mal ein deutlich höheres Risiko für schwere RSV-Verläufe als zeitgerecht geborene Kinder. Damit hätte man den zukünftigen Kindern in Summe einen Bärendienst erwiesen. Dr. Konietzky, herzlichen Dank für das Gespräch! Antje Maly-Samiralow Über die Autorin Antje Maly-Samiralow ist Journalistin mit Schwerpunkt auf Medizin- und Gesundheitsthemen, Autorin und Moderatorin. Weiterführende Informationen • Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung e. V. (ÄFI): Gneisenaustraße 42, 10961 Berlin, https://individuelle-impfentscheidung.de, info@individuelle-impfentscheidung.de Infos zur RSV-Impfung: https://individuelle-impfentscheidung.de/impfungen/rsv.html • Impfen mit Sinn und Verstand: https://impfen-mit-sinn-und-verstand.podigee.io RSV kurzgefasst • RSV (Respiratorisches Synzytial-Virus) tritt nur beim Menschen auf. • Die Übertragung erfolgt über Tröpfchen und Aerosole, auch über Schmierinfektionen. • Die Inkubation verläuft im Nasen-Rachen-Raum innerhalb von 2 bis 8 Tagen, im Schnitt innerhalb von 5 Tagen. • Die Symptome betreffen die oberen Atemwege und reichen von verstopfter Nase, Husten bis zu leichtem Fieber. • Neugeborene und Kinder mit Vorerkrankungen können schwere Verläufe der unteren Atemwege erleiden bis hin zu Lungenentzündungen und schwerer Atemnot. • Bei älteren sowie vorgeschädigten bzw. immundefizienten Erwachsenen kommt es häufiger zu Infekten der unteren Atemwege. Zulassungsdaten für Impfstoffe gegen RSV-Infektionen auf einen Blick • 16.9.2022 Empfehlung der EMA (Europäische Arzneimittelagentur) für die Zulassung von Beyfortus (Nirsevimab) • 26.4.2023 Positive Stellungnahme für den Impfstoff Arexvy durch die EMA zur Anwendung bei Menschen über 60 Jahren • 6.6.2023 Zulassung von Arexvy durch die Europäische Kommission • 15.6.2023 Meldepflicht für Infektionen mit dem RS-Virus, verankert im Infektionsschutzgesetz • 21.7.2023 Positive Stellungnahme der EMA für die Zulassung des Impfstoffs Abrysvo zur Impfung von Menschen über 60 Jahren sowie von Schwangeren und einer damit einhergehenden passiven Immunisierung der Säuglinge • 23.8.2023 Zulassung von Abrysvo durch die Europäische Kommission • 27.6.2024 Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) zur Passiv-Immunisierung mit Beyfortus (Nirsevimab) • 8.8.2024 Empfehlung der STIKO zur Immunisierung von Personen ab 75 Jahren sowie Personen ab 60 Jahren mit Vorerkrankungen mit Arexvy oder Abrysvo • 23.8.2024 Zulassung des mRNA-Impfstoffs mResvia zur Immunisierung von Personen über 60 Jahren gegen RSV durch die Europäische Kommission Die aktuellen RSV-Impfstoffe im Überblick • Arexvy (von GlaxoSmithKline): proteinbasierter Impfstoff zur aktiven Immunisierung Am 6. Juni 2023 erfolgte die Zulassung des Impfstoffs für die EU, nachdem der Ausschuss für Humanarzneimittel der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) am 24. Mai 2023 im beschleunigten Bewertungsverfahren ein positives Votum für den Impfstoff abgegeben hatte. Zugelassen ist Arexvy für Menschen ab 60 Jahren. Der Impfstoff war in der Studie schlecht verträglich, 49 % der Geimpften klagten über systemische Nebenwirkungen (23 % unter Placebo). Es trat ein Fall eines Guillain-Barré-Syndroms auf, 2 Personen, die parallel die Influenza-Impfung erhielten, erkrankten an einer akuten disseminierenden Enzephalomyelitis (akut entzündlicher Erkrankung des Zentralnervensystems), einer von ihnen starb. Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA hält einen Zusammenhang zu vermehrt beobachteten Herzrhythmusstörungen (Vorhofflimmern) für möglich. • Abrysvo (von Pfizer): proteinbasierter Impfstoff zur aktiven Immunisierung ist der erste Aktiv-Impfstoff zum Schutz von Säuglingen, er soll Schwangeren verabreicht werden, um einen künstlichen Nestschutz zu erzeugen. Am 24. August 2023 folgte die Zulassung durch die Europäische Kommission. In einer Studie, die nicht placebokontrolliert war (verwendet wurde die Impfstoff-Formulierung lediglich ohne den Wirkstoff), traten in der Impfstoff-Gruppe 2 Fälle schwerer neurologischer Nebenwirkungen (je ein Guillain-Barré- und ein Miller-Fisher-Syndrom innerhalb von maximal 8 Tagen nach der Impfung) auf. Die FDA äußerte den Verdacht, dass Herzrhythmusstörungen (Vorhofflimmern) durch die Impfung häufiger ausgelöst werden könnten als durch das Placebo. • Passive Immunisierung mit Nirsevimab (Beyfortus) (quasi der Nachfolger von Palivizumab (Synagis) wurde im Herbst 2022 von der EMA zur Prophylaxe von RSV-Infektionen bei Neugeborenen und Kindern zugelassen. Nirsevimab ist ein sogenannter monoklonaler Antikörper, der mittels einer speziellen DNA-Technologie aus Hamster-Eierstöcken gewonnen wird. Die häufigste Nebenwirkung sind mit fast 1 % Hautausschläge innerhalb der ersten 14 Tage nach der Impfung und Fieberreaktionen. • mRNA-basierter RSV-Impfstoff mResvia (mrna-1345 von Moderna) wurde am 23. August 2024 zur Immunisierung von Personen über 60 Jahren durch die Europäische Kommission zugelassen, nachdem die FDA – noch bevor nachprüfbare Studiendaten einem Peer-Review-Verfahren zur Qualitätsprüfung unterzogen werden konnten – ein beschleunigtes „Fast-Track“-Zulassungsverfahren zugesichert hatte. mResvia ist der erste mRNA-Impfstoff, der in der EU für eine andere Krankheit als Covid-19 zugelassen wurde. Die nationalen Behörden in den einzelnen Mitgliedstaaten prüfen aktuell, ob und wie sie den Impfstoff im Einklang mit ihren nationalen Impfplänen verwenden. Quellen: • www.impf-info.de/die-impfungen/rsv/368-rsv_impfung.html • https://individuelle-impfentscheidung.de/impfungen/rsv.html

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