Wie wir durch Vergebung Frieden mit unserer Vergangenheit schließen können

Wenn uns bewusst wird, dass Menschen, die uns ihre Liebe nicht zeigen bzw. uns nicht annehmen können, so wie wir sind, selbst in ihrer Kindheit und Jugend tiefen Verletzungen ausgesetzt worden sind, fällt es uns leichter, ihnen zu verzeihen. Die Vergebung befreit uns von hemmenden Verstrickungen und öffnet das Tor zur bedingungslosen Liebe. Eines der für mich bedeutendsten und befreiendsten universellen ethischen Prinzipien, die ich in meinem Leben bislang entdeckt habe, ist das der Vergebung. Mein Vater starb einen plötzlichen Tod, als ich noch ein junger Mann war. Schon als kleiner Junge hatte er Verletzungen, Kränkungen, Unsicherheit und Verunsicherung erfahren müssen. Im Alter von siebzehn Jahren beschloss er, dem Aufruf der Nationalsozialisten zur freiwilligen Aufnahme in die deutsche Reichswehr zu folgen. Als er sieben Jahre später zurückkehrte, waren seine Mutter und sein Vater verstorben. Das Land lag in Trümmern, und die Jahre nach dem Krieg waren voller Gefahr und Unordnung. Die nationalsozialistische Erziehung, die darauf abzielte, eine Generation aus Mitläufern und Soldaten heranzuziehen, hinterließ auch bei meinem Vater tiefe Spuren. Die Leitsätze dieser menschenverachtenden Machthaber prägten ihn bereits in jungen Jahren, und so war er davon überzeugt, dass Sensibilität eine Schwäche und das Leben nur mit Härte und Durchhaltevermögen zu bewältigen sei. Erst in seinem letzten Lebensjahr wurde er nachdenklicher und begann, mit sich und seiner Vergangenheit zu hadern. Er sprach davon, dass er vieles hätte anders machen sollen und dass er seine Träume nicht gelebt habe. Die Aggressivität, die ihn zuvor immer wieder übermannt hatte, wandelte sich in Niedergeschlagenheit und Resignation. Einerseits machte es mich sehr traurig, ihn nun so entmutigt zu sehen, andererseits sah ich einen gewissen Hoffnungsschimmer in seiner unerwarteten Selbstkritik. Leider aber fehlte ihm am Ende die Zeit, die er gebraucht hätte, um zumindest einen versöhnlichen Lebensabend zu erlangen. Bereits ein Jahr nach dieser spürbaren Wesensänderung erlag er mit nur sechsundfünfzig Jahren einem plötzlichen Herztod. Das Schicksal wollte es, dass ich genau in dem Moment bei ihm war, als er starb: An jenem Abend, als wir zusammensaßen, sank mein Vater schlagartig von einem Moment zum anderen in sich zusammen. Wenige Minuten nach dem Notruf trafen die Ärzte ein. Als meine Mutter zur Tür lief, um ihnen den Weg zu weisen, war ich für einige Momente mit meinem Vater allein. In diesen wenigen Augenblicken breitete sich eine wundersame Atmosphäre um mich aus. Ich spürte deutlich, wie sich die Grenzen, die ihn sein ganzes Leben gefangen gehalten hatten, auflösten. Ich fühlte unverhofft die Tiefe der wirklichen Verbindung zwischen uns, in der es nichts weiter gab als die Sehnsucht nach Liebe und Akzeptanz. Danach hatte nicht nur ich mich gesehnt, sondern auch er hatte sie in Wahrheit gesucht. Während dieser Erfahrung umarmte ich ihn ein letztes Mal, küsste ihn auf die Wange und flüsterte ihm zu, dass ich ihn liebe. Es war ein friedvoller Abschied, der nichts weiter bedurfte, ein Moment der Heilung und des Verstehens. Als hätten wir in diesem Augenblick endlich auf einer tiefen Ebene zueinandergefunden, die uns die Liebe und den Frieden brachte, die unserer Verbindung so lange gefehlt hatten. In dem Moment seines Todes, als ich das erkannte, fand ich die Kraft, ihm aufrichtig zu verzeihen. Es war nicht ich, den er in Wirklichkeit ablehnte. Er erkannte in mir etwas, das auch er in sich trug, aber verdrängen musste, weil seine Erziehung ihn darauf konditioniert hatte, Verletzlichkeit zu unterdrücken. Indem wir erkennen, dass die Verletzungen, die uns andere zufügen, oft nur ein Spiegel ihrer eigenen Wunden sind, gewinnen wir an Resilienz. Anstatt uns in Schuldzuweisungen zu verstricken, gelingt es uns, die wahren Beweggründe eines Menschen zu erkennen und ihm zu verzeihen – so, wie ich meinem Vater von dem Augenblick an vergeben konnte, als ich erkannte, dass er ein verletzter Mann war. Aus: Im Spiegel unseres wahren Selbst Wie Authentizität zu Mitgefühl führt und die Einsamkeit auflöst Von Emilio Deia © BoD – Books on Demand, Norderstedt, 2024 ISBN 978-3-7583-4163-2

Der Artikel "Wie wir durch Vergebung Frieden mit unserer Vergangenheit schließen können" ist Teil der Audio-Ausgabe August 2024

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