Hilfreich und gefährdet – die Rosskastanie
Im Frühling erfreut uns ihre verschwenderische Blütenfülle mit den weißen oder roten, aufrecht stehenden „Kerzen“, im Sommer spendet sie kühlenden Schatten in Parkanlagen und Alleen, im Herbst schwärmen die Kinder aus, um die braun glänzenden Früchte in der stacheligen Kapsel für Bastelarbeiten aufzusammeln. Naturheilkundige tun es den Kleinen gleich, um ein Venen-Tonikum oder Tinkturen gegen Hämorrhoiden und Krampfadern daraus zu bereiten. Seit etlichen Jahren macht allerdings ein Schädling den Bäumen ernsthaft zu schaffen. Deshalb wurde die Rosskastanie nun zum „Baum des Jahres 2005“ gekürt.
So sehr der mächtige Baum mit den großen, gefingerten Blättern auch in unsere Gegend passt – in Parks und Alleen, als beliebter Schattenspender in Biergärten oder als Hofbaum auf dem Lande –, ist er doch kein permanenter Einwohner Mitteleuropas. „Aesculus hippocastanum“, so der botanische Name, war bereits vor der letzten Eiszeit bei uns heimisch, verschwand dann jedoch von der Bildfläche und kam wesentlich später aus den Mittelgebirgen des Balkans, des Kaukasus und Kleinasiens zu uns zurück. Ein französischer Arzt und Botaniker hatte Aesculus-Samen aus Istanbul nach Wien gebracht; der schnellwüchsige Baum breitete sich rasch aus und wurde von Ludwig XIV., dem Sonnenkönig (1639 – 1715), zu seinem Lieblingsbaum auserkoren. Seitdem wurde er als beliebter Schattenspender auf Dorfplätzen, Schulhöfen und bei Gasthäusern gepflanzt.
In der Türkei und beim „fahrenden Volk“ sollen zerhackte Kastanien im Viehfutter seit eh und je zur Linderung von Atembeschwerden der Rösser, der so genannten „Dämpfigkeit“ verordnet worden sein. Womöglich ist aus dieser veterinärmedizinischen Heilanwendung die Bezeichnung Rosskastanie entstanden. Manche Botaniker glauben indes, dass die – im Gegensatz zur wohlschmeckenden, mit Buchen verwandte Edel- oder Esskastanie – nur zur Tierfütterung verwendete Kastanie einfach mit der Bezeichnung „Ross“ versehen wurde, um ihre geringere Bedeutung für den Menschen herauszustellen. In der Tat ist sie für den Menschen auch nicht zum Verzehr geeignet, kann sie doch wegen ihrer Bitterstoffe Übelkeit und Magenbeschwerden verursachen. Sogar vor ihrer Verwendung als Pferdefutter wurden die Kastanien zermahlen, in Kalkwasser eingeweicht und schließlich gekocht, um ihnen den bitteren Geschmack zu nehmen.
Und doch kann der geschmähte Tierfutter-Lieferant namens Rosskastanie offenbar so viel Gutes für uns tun. So meint der Volksmund zu wissen, dass drei Kastanien in der Hosentasche vor Rheuma schützen. Auch heute noch befolgen ältere Leute auf dem Land insgeheim diesen Rat zur Vorbeugung oder Linderung des Gliederreißens. Beim Radfahren und Wandern sollen sie – in gleicher Weise angewandt – gegen den „Wolf“ (durch Scheuern entzündete Hautpartien) schützen. Manche meinen gar, eine Kastanie im Geldbeutel sorge stets für klingende Münze. Ob sie auch in Zeiten des bargeldlosen Zahlungsverkehrs zur Liquidität beitragen kann, ist indes nicht bekannt.
Der naturheilkundlich anerkannte therapeutische Effekt der Kastanie wird vor allem den in den Früchten enthaltenen, bitteren „Saponinen“ zugeschrieben. Diese „Seifenstoffe“ wirken zusammenziehend (deshalb die Bitterkeit), abschwellend, schleimlösend und entwässernd. In der jungen Rinde und den Blütenknospen ist zudem der Wirkstoff „Aesculin“ zu finden, der in vielen Salben gegen Sonnenbrand enthalten ist und zudem die Durchblutung und den Stoffwechsel anregt. Die Wirkstoffe der Rosskastanie erhöhen die Fließgeschwindigkeit des Blutes und dichten die Kapillaren, die feinen Blutgefäße ab; sie wirken kräftigend auf die Venen, sie helfen, das Gewebe zu entwässern, verhindern neue Wasseransammlungen, bringen Schwellungen zum Abheilen und wirken entzündungshemmend und blutstillend. Die Gefahr der Brüchigkeit der feinen Kapillaren wird vermindert, die Venen-Innenwand gestrafft und die Gefahr von Blutgerinnseln und Thrombosen vermindert.
In Form von Salben, Gels, Tinkturen oder Umschlägen wird die Rosskastanie bei allen Venenleiden eingesetzt: Bei Venenstauungen, die sich durch geschwollene, müde Beine, Schmerzen und Schweregefühl in den Beinen, nächtliche Wadenkrämpfe, Krampfadern und Hämorrhoiden bemerkbar machen. Im Hinblick auf diese Heilwirkung empfahl der „Wasserdoktor“ Sebastian Kneipp seinen Patienten die äußere und innere Anwendung von Kastanienzubereitungen zur Unterstützung seiner „Wasserkuren“. Aus den Blüten und Blättern wird in der Volksheilkunde zudem ein Tee zubereitet, der bei Husten schleimlösend wirkt. Da die stark wirkenden Saponine in den Blättern und Blüten nur in geringem Maß enthalten sind, ist die Teezubereitung auch für die „Hausapotheke“ möglich (s. Kasten).
Seit geraumer Zeit macht den ebenso hilfreichen wie ansehnlichen Rosskastanien allerdings ein winziges Insekt zu schaffen. Die Raupe der Minimiermotte hat keine natürlichen Feinde und wurde aus der Heimat der Rosskastanie nach Mitteleuropa eingeschleppt. Der Kleinschmetterling kann vier Generationen pro Jahr entwickeln, so dass bis zu 50.000 Tiere einen einzigen Baum heimsuchen können. Die Blätter färben sich bereits vor dem Herbst braun und fallen frühzeitig ab. Das traurige Ergebnis: Herbst im Hochsommer.
Das „Kuratorium Baum des Jahres“ hofft, dass durch die Wahl der Rosskastanie die Forschung zur Rettung der Kastanien vorankommt. Ein erster Lichtblick ist vielleicht das Experiment des „Pflanzenschutzamts der Landwirtschaftskammer Rheinland“: In der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn in der Poppelsdorfer Allee zwischen der barocken Universität und dem kurfürstlichen Schloss. Dort versuchen die Pflanzenschützer den Raupen der Minimiermotte auf homöopathischem Wege zu Leibe zu rücken. Sie applizieren ein Mittel, das in höchster Verdünnung Informationen des winzigen Schädlings auf die Kastanienblätter überträgt – nach dem Grundsatz der Homöopathie: „Similia similibus curantur“ – Ähnliches wird durch Ähnliches geheilt.
Willi Dommer
Anwendung als Hausmittel
• Kastanienblätter-Tee:
1 bis 2 Blätter mit 1 Tasse kochendem Wasser überbrühen. Einige Minuten ziehen lassen und anschließend durchsieben. Täglich drei Tassen schluckweise trinken. Der Tee hilft bei geschwollenen Beinen, Krampfadern und Durchblutungsstörungen.
• Blütentee:
1 Teelöffel getrocknete Blüten mit 1 Tasse kochendem Wasser übergießen und 5 Minuten ziehen lassen. Danach abseihen und evtl. mit Honig süßen. Tagesdosis: 2-3 Tassen. Der Tee wirkt schleimlösend, entwässernd und festigt das Gewebe.
• Öl zum Einreiben:
125 Gramm Rosskastanien in kleine Stücke schneiden und durch den Fleischwolf drehen. Die breiige Masse mit 1/2 Liter kaltgepresstem Olivenöl vermischen und 14 Tage ruhen lassen. Danach abseihen und das Öl in ein braunes Fläschchen füllen. Dunkel und kühl lagern. Zum Einreiben bei Rheuma und Venenproblemen.
• Kastanie in der Bach-Blütentherapie:
Edward Bach, Begründer der nach ihm benannten Blüten-Therapie, empfiehlt „White Chestnut“ für Menschen, die viel über verpasste Gelegenheiten nachgrübeln. Sie zeigen sich im Alltag oft unkonzentriert und wirken „verspannt“, weil sie Selbstgespräche und innere Dialoge führen, auch machen sie immer wieder die gleichen Fehler, weil sie nicht wirklich daraus gelernt haben. „Red Chestnut“ hilft Menschen, die sich zu sehr um andere sorgen und sich selber dabei vernachlässigen. Bezeichnende Aussage von Red-Chestnut-Menschen: „Wenn es Euch gut geht, dann geht es mir auch gut.“