Den Wald neu denken

Brennende Kiefern, marode Fichtenplantagen, bedrohte Eichen- und Buchenwälder: Schätzungen zufolge sind rund 80 % aller Bäume in Deutschland krank. Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten, dem Wald auch in Zeiten steigender Temperaturen und größerer Trockenheit wieder auf die Füße zu helfen – dann, wenn wir „ihm nicht ständig mit der Motorsäge ein Bein stellen würden“. So formuliert es der bekannte Förster, Naturschützer und Bestseller-Autor Peter Wohlleben, der schon seit Jahrzehnten dazu forscht, wie ein resilienter Wald der Zukunft aussehen könnte. Für den diplomierten Forstingenieur ist klar: Ein natürliches Ökosystem mit ausreichend Biomasse hat erstaunliche Fähigkeiten der Selbstregulation. Und: Je weniger wir eingreifen und je mehr wir die Natur wieder selbst „machen lassen“, desto anpassungsfähiger und gesünder ist der Wald. Geseko von Lüpke hat sich für NATUR & HEILEN mit Peter Wohlleben über das faszinierende Lernpotenzial von Bäumen, ihre klimaverändernden Fähigkeiten, ihr ausgeklügeltes Sozialverhalten und die Notwendigkeit eines neuen Wald-Narrativs unterhalten. Interview mit dem bekannten Waldexperten Peter Wohlleben Herr Wohlleben, wie ist der aktuelle Zustand des Waldes nach dem Dürre-Sommer 2022? Vor welcher Situation stehen wir? Dem „echten“ Wald geht es überraschend gut, obwohl es z. B. bei uns in der Eifel das schlimmste Trockenjahr überhaupt war – wobei 2018, 2019 und 2020 auch schon sehr trocken waren und die Bäume schwer gelitten haben. 2022 ging es ihnen dann auf einmal besser. Diese Tendenz der Besserung ist übrigens fast überall in Deutschland beobachtet worden – zumindest in Wäldern, die halbwegs natürlich sind. Bei Nadelwäldern, also Fichten und Kiefern, die hier von Natur aus eigentlich nicht großflächig zu Hause sind, sieht es dagegen schlechter aus. Und auch bei stark ramponierten alten Laubwäldern, deren Böden mit Maschinen verdichtet sind, sieht es nicht gut aus. Aber überall da, wo die Wälder sich selbst organisieren dürfen, sind wir wirklich ganz erstaunt darüber, wie gut sie nach dem letzten Sommer dastehen. Bäume lernen dazu Lernt der Wald im Gegensatz zu uns Menschen dazu? Absolut. Dazu gibt es auch gute Forschungen aus Deutschland, etwa zu den Ivenacker Eichen. Sie haben 2018/19 sehr schlecht ausgesehen. 2020, im dritten Trockenjahr, ging es ihnen dann auf einmal besser. Sie haben andere Blattformen gebildet. Stieleichen, die eher feucht-kühles Klima brauchen, haben auf einmal Traubeneichen-Blätter gebildet – das sind Eichen, die eher auf Trockenhängen wachsen. Sie haben sogar Blätter der Pyrenäen-Eiche gebildet, eigentlich eine ganz andere Art, die in Spanien wächst. Offensichtlich haben sie sich daran erinnert, wie sie in ihrer spanischen Heimat während der Eiszeit überwintert haben. Und es gibt auch ein ganz aktuelles Untersuchungsergebnis zum Thema Buche: Die Buche scheint sich ebenfalls angepasst zu haben, indem sie im Sommer weniger Fotosynthese macht und dafür nach hinten raus im Herbst noch einmal deutlich mehr. Dadurch kann sie kompensieren. Das heißt, die Buche stellt ihre gesamte Fotosynthese um? Ja, sie stellt ihre Verhaltensweise um in Bezug auf ihren Stoffwechsel. Das sieht man u. a. daran, dass sie eben im Sommer, wenn es trocken ist, nicht mehr so viel wächst, aber dass sie es hinten raus, im Herbst, wieder aufholt. Und das scheint ein Muster zu sein, was sich wohl auch epigenetisch nachweisen lässt. Das heißt: Die Buchen verändern sich. Wenn Bäume dazulernen, heißt das ja aber auch, dass sie eine Art Gedächtnis haben müssen und ein in irgendeiner Form gewähltes, zielgerichtetes Verhalten zeigen. Ich glaube, wir müssen uns generell im Kopf umstellen, was unser Verständnis von Bäumen und Pflanzen angeht. Es hat ja auch Jahrhunderte gedauert, bis wir den Tieren etwas in diese Richtung zugestanden haben. Das kommt noch aus dem Zeitalter der Aufklärung, in dem man die Natur als eine Maschine angesehen hat. Das steckt noch in unseren Köpfen. Das heißt, gewähltes Verhalten kommt nicht nur bei uns Menschen vor? Wer hat denn das gewählte Verhalten erfunden? Das war sicher nicht der Mensch! Die Pflanzen sind an Land gekommen, konnten sich nicht wegbewegen und mussten dann Strategien entwickeln, die sich auf Veränderungen beziehen. Wir Menschen hauen dagegen einfach ab, wenn etwas nicht passt. Die Pflanzen müssen aber sitzen bleiben und entsprechende Anpassungen entwickeln. Wie müssen wir uns denn die Zukunft vorstellen, wenn in den nächsten Jahrzehnten die Bäume, die hier eigentlich nicht hingehören, extrem leiden? Heißt das, dass Fichten und Kiefern auf lange Zeit verschwinden werden? Plantagen mit Fichten und Kiefern werden auf jeden Fall verschwinden, das sehen wir ja jetzt schon überall. Ob in Franken die Kiefern, im Sauerland die Fichten: Wir haben in den letzten Jahren schon mindestens 5 % der Waldfläche verloren. Diese Bäume können sich nicht weiter anpassen, weil sie eh schon viel zu warm und trocken stehen. Sie kommen ja eigentlich aus Skandinavien, Sibirien usw. Unsere heimischen Ökosysteme aber halten die derzeitigen Veränderungen noch gut aus. Sie können sich selbst herunterkühlen, sie können sogar aktiv Regenwolken erzeugen und kleine lokale Tiefdruckgebiete bilden. Das ist wirklich unglaublich, was Bäume alles draufhaben! Sind das ganz neue Erkenntnisse? Die Klimawirkung von intakten Wäldern hat schon Alexander von Humboldt vor 200 Jahren beschrieben. Das ist also eigentlich altes Wissen, was durch die moderne Satelliten-Forschung gestützt wird. Wir sollten den Wald nicht weiter ausbluten lassen. Unsere Kunst-Forste, unsere Wirtschaftswälder haben grob geschätzt nur ein Viertel der Biomasse von natürlichen Wäldern, also viel zu wenig. Und alles, was an Biomasse fehlt, behindert die Selbstorganisation. Wo das dann endet, wissen wir nicht. Das Einzige, was gewiss ist: Je mehr wir an den Wäldern herumbasteln, desto schneller geht es mit ihnen bergab. Den Wald gestalten? Das heißt, wir sollten den Prozess sich selbst überlassen und möglichst wenig tun? Oder könnten wir den Wald nicht auch so „gestalten“, dass er die Klimakrise übersteht? Den Wald können wir gar nicht „gestalten“. Auf den Jacken mancher Forstverwaltungen steht ja sogar: „Wir machen Wald!“ Da denke ich immer, da fehlt drunter: „Ich bin Gott!“ Man kann keinen Wald „machen“, denn dazu müsste man die Komponenten kennen – und die kennen wir nicht. Ich gebe immer ein einfaches Beispiel: In 30 g Buchenwald-Erde, das haben norwegische Forschende untersucht, finden sich rund 40.000 verschiedene Bakterienarten. 40.000 Arten, nicht 40.000 Bakterien! Kein Mensch weiß, was sie da genau machen. Wir wissen nur: Eine falsche Bakterienart bei uns im Körper – und es geht uns gar nicht gut. Fehlen die richtigen, geht es uns auch miserabel. So ähnlich ist das bei den Bäumen. Und da reden wir bislang ja nur von den Bakterien. Wir kennen z. B. auch rund 90 % aller Pilzarten noch gar nicht. Das sind aber ganz wichtige Komponenten, die mit den Bäumen zusammenleben. Und in Süddeutschland wurden neulich geschätzt 2.000 neue Insektenarten entdeckt. 2.000! Ich kann noch nicht einmal 200 Insektenarten nennen. Also, wir kennen bisher noch ganz viele Komponenten nicht und sagen trotzdem: „Wir basteln jetzt hier herum, und dann wird es besser!“ Das heißt, die „manipulative“ Forstwissenschaft ist gescheitert? Seit 200 Jahren sterben Nadelholz-Plantagen durch Borkenkäfer, durch Stürme, durch Dürre – und trotzdem machen wir immer weiter. Das geht einfach nicht mehr. Wenn wir das einsehen, wird es leichter werden. Noch kommt der Wald überall von selbst zurück – das kann man sehr schön sehen. Und übrigens heißt es auch nicht, dass wir, wenn wir die Natur machen lassen, den Wald nicht mehr nutzen dürfen. Da werde ich häufig falsch verstanden. Nein, was ich sage, ist: Den Wald macht die Natur selbst, und wir dürfen dann schauen, was wir ihr abverlangen können, ohne das System zu sehr zu stören. Also ich bin absolut für Holznutzung. Die sollte es meiner Meinung nach auch in Zukunft geben. Aber wie viel wir den Wald zur Ader lassen, das müssen wir logischerweise ständig neu verhandeln, weil die Temperaturen ja leider weiter steigen werden. Müssen wir unser Bild vom Wald also kollektiv neu fassen? Und wie lauten dann die wesentlichen Kapitel eines neuen Narrativs vom Wald? Also, beschreiben wir einmal das alte Narrativ. Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats für Waldpolitik beim Bundeslandwirtschaftsministerium, also quasi der oberste Forstwissenschaftler, sagt: „Die Selbstheilungskräfte der Natur sind ein evidenzfreies Narrativ!“ Also: „Die Natur kann es selbst gar nicht mehr.“ Und das neue Narrativ müsste eigentlich heißen: „Wir wissen viel zu wenig, um uns da einzumischen. Aber wir dürfen nutzen, wir dürfen dabei sein, wir dürfen davon profitieren, nur dürfen wir nicht zu sehr stören.“ Ausgeklügelte Sozialstruktur Nun macht ja die Wissenschaft gerade eine ganze Menge Entwicklungen beim Verständnis des Ökosystems Wald und dem Wissen um die bislang weitgehend unbekannten Fähigkeiten der Bäume. Was wissen wir denn tatsächlich über die Kommunikation von Bäumen? Dazu gibt es gute Forschungen. Aktuelle Untersuchungen aus Leipzig zeigen, wie Eichen mit Vögeln kommunizieren, um Raupen loszuwerden. Sie stoßen bestimmte Duftstoffe aus, und die Vögel wissen dann: „Da hinten gibt es Raupen an der Eiche.“ Und dann picken sie quasi die Parasiten von den Blättern. Bäume untereinander kommunizieren auch. Das ist aber schon lange bekannt. Wenn ein Baum etwa von Borkenkäfern befallen wird, dann merkt man, wie sich seine Nachbarn ebenfalls „rüsten“, obwohl sie noch gar nicht befallen sind. Sie haben also Warnhinweise erhalten, z. B. über das sogenannte Wood Wide Web. Den Begriff zum Internet des Waldes hat die Zeitschrift Nature ja schon in den 1990er-Jahren geprägt. Das bedeutet, dass über ein ausgeklügeltes Pilzgeflecht Botschaften „gefunkt“ werden – das ist wirklich total irre, was da abläuft. Aber trotzdem wissen wir bisher noch ganz wenig über die Baum-Sprache. Was Sie gerade erwähnt haben, klingt ja fast nach einer Sozialstruktur. Wie sorgen sich denn Bäume umeinander? Bäume haben definitiv eine Sozialstruktur. Und das macht ja auch Sinn: Ein Baum allein ist kein Wald. Das wissen die Bäume instinktiv, und deswegen kooperieren sie. Je mehr Bäume und je dichter sie zusammenstehen, desto gesünder wächst ein Wald, desto resilienter ist er – also gemeint ist ein natürlicher Wald, keine Plantage, die aufgeforstet wurde. In einem natürlichen Wald mit viel Biomasse findet eine große gegenseitige Unterstützung statt. Da werden selbst alte Baumstümpfe über Jahrhunderte miternährt, die Baumjugend wird über Wurzelverwachsungen mit Zuckerlösung, man könnte fast sagen: „gestillt“. Und man weiß, dass Bäume über ihre Wurzelspitzen sehr genau wissen, mit wem sie da Kontakt haben: ob es dieselbe Baumart ist, ob diese Bäume zur Familie gehören oder ob es vielleicht sogar der eigene Nachwuchs ist. Dazu gibt es tolle Untersuchungen, etwa mit radioaktiv markierten Zuckermolekülen. Da kann man dann sehen, wohin sie im Boden fließen, bei wem sie landen und ob die Austauschenden genetisch verwandt sind. Das alles lässt sich wissenschaftlich sehr gut zeigen. Und es macht auch Sinn, dass dieser Austausch besteht, denn das Ökosystem muss ja groß sein. Wenn ein Wald selbst Wolken erzeugen kann, dann braucht er schon ein paar Quadratkilometer. Das schafft kein einzelner Baum allein. Und deswegen sind Bäume eben keine Konkurrenten, wie das so oft kolportiert wird. In der Forstwirtschaft wird oft gesagt: „Bäume kämpfen gegeneinander um Licht, Wasser und Platz. Da machen wir mal ein bisschen Raum, damit sie sich besser entwickeln können!“ Doch die Antwort der Bäume ist: „Lasst das! Das ist meine Familie. Die brauche ich!“ Der Luft-Ozean Sie sagten eben, dass ein Wald selbst Wolken erzeugt. Heißt das, Bäume können sozusagen ihre eigene Dusche anstellen? Ja! Das funktioniert über mehrere Stufen und geht erst mal los mit der Wasserverdunstung. Bäume können sehr viel Wasser verdunsten, eine ausgewachsene Buche z. B. bis zu 500 Liter pro Tag. Das erzeugt einen Auftrieb und damit ein Tiefdruckgebiet. Über solchen Wäldern bilden sich dadurch auch mehr Wolken. Aber die Wolken müssen sich natürlich erst einmal kristallisieren. Wassermoleküle lagern sich ja nicht einfach so zusammen, sie brauchen dazu winzige Partikel – und das können etwa Kohlenwasserstoffe sein, die die Bäume aktiv ausstoßen, wenn es ihnen zu trocken wird. Bäume entlassen aber auch Bakterien von der Blattoberfläche in die Luft. Bei einer ausgewachsenen Buche können das pro Sekunde bis zu 200.000 Bakterien sein, die aufsteigen. Auch das erleichtert die Wolkenbildung. Anschließend kommt das Ganze dann wieder herunter. Noch mal: Das sind Dinge, die wusste schon Alexander von Humboldt. Er hat das vor 200 Jahren aufgeschrieben. Und die Spanier forsteten in Venezuela wieder auf, weil er ihnen gesagt hat: „Dass eure Flüsse und Seen trocken werden, liegt an der Abholzung, weil das Wasser verschwindet – und zwar aus der Luft.“ Alexander von Humboldt hat damals von einem „Luft-Ozean“ gesprochen. Leider hat man das alles wieder vergessen und die Natur wie einen Selbstbedienungsladen behandelt. Dabei hat man sich quasi die Landschaft-Klimaanlage kaputt gemacht. Bäume können fühlen Wenn Sie all das beschreiben, heißt das dann, dass Bäume auch fühlen können? Selbstverständlich fühlen Bäume! Es gibt tolle Experimente, etwa von der Universität Bonn, zum Schmerzempfinden von Pflanzen. Die New York Times hat dazu mal ein Interview mit einem der beteiligten Biologen veröffentlicht, Prof. Frantisek Baluska. In den Versuchen gab es starke Hinweise darauf, dass Pflanzen sehr wohl Schmerz empfinden können, weil sie schmerzlindernde Stoffe produzieren. Auch wir Menschen machen das, wenn wir extremen Stress haben. In manchen Situationen sagt unser Körper: „Jetzt nicht!“ Bei einem Unfall setzt der Schmerz erst später ein, damit man, falls man noch in unmittelbarer Gefahr ist und fliehen muss, nicht ohnmächtig wird, sondern reaktionsfähig bleibt. Und genau das machen Pflanzen auch. Das ist 1:1 dasselbe, das kann man sehr schön nachweisen. Das Gehirn der Bäume Sie sprachen eingangs bereits vom Gedächtnis der Bäume und davon, dass sich ein Baum wie die Buche vielleicht noch an die letzte Eiszeit erinnert. Was ist das für eine Art von Gedächtnis? Da sitzt ja kein Gehirn im linken Blatt oben auf 10 m Höhe ... Das Pflanzengehirn ist ganz woanders, wenn man es denn verorten möchte. Dazu laufen übrigens gerade universitäre Forschungen. Aber auch Charles Darwin hat schon postuliert, dass in den Wurzelspitzen gehirnähnliche Strukturen vorhanden seien. Und das hat die moderne Forschung nun bestätigt. Da laufen elektrische chemische Prozesse ab, teilweise sogar mit denselben Neurotransmittern wie bei uns im Gehirn. Natürlich ist das Baum-Hirn dezentral organisiert, aber es arbeitet trotzdem zusammen – ähnlich wie eine Computer-Cloud. Und ob es tatsächlich so funktioniert wie das menschliche Gehirn, das wird gerade erforscht. Aber was man schon weiß: Wenn es einem Baum zu trocken wird, fließen Hormone von den Wurzeln in die Blätter, und diese schließen dann ihre Spalt-Öffnungen. Das ist ähnlich wie bei uns Menschen: Wenn wir irgendetwas brauchen oder nicht, produzieren wir Hormone, und dann reagiert unser Körper. Das Gehirn ist bei den Bäumen also unten? Das ist so! Konkret handelt es sich dabei um die Wurzeln. Wir sagen ja die „Baumkrone“ und stellen uns automatisch den Kopf oben vor. Aber beim Baum ist es genau andersherum: Er steckt quasi den Kopf in den Boden. Teil eines großen Organismus Gibt es so etwas wie Führungspersönlichkeiten in Wäldern? Gibt es in irgendeiner Form Älteste oder Patriarchen, die alles steuern? Die Pflanzenforschung ist leider finanziell sehr schlecht ausgestattet. Das ist innerhalb der Biologie eigentlich der schwächste Zweig der Forschung, weil man das Geld eher für die Humanforschung, Tierforschung, Agrarforschung usw. ausgibt. Aber die Forschung, die es gibt, deutet tatsächlich auf so etwas hin. Man weiß etwa, dass sich junge Bäume im Umfeld von alten Bäumen anders verhalten, nämlich „vernünftiger“. Ein Beispiel: Bei Trockenheit ist es sinnvoll, nicht sämtliches Frühjahrs- oder Winterwasser aus den Böden in einem Zuge zu versaufen, sondern eher mal langsam zu machen, damit noch genug Bodenwasser verfügbar bleibt. Und wenn man das nicht weiß, hält man sich nicht daran und steht dann möglicherweise, wenn es im Juli trocken wird, vor Problemen. Man kann tatsächlich sehen, dass Bäume das teilweise unter Schock lernen müssen. Im Umfeld von alten Bäumen hingegen machen sie diesen Fehler nicht, sondern verhalten sich direkt „vernünftig“. Wie genau da aber der Informationsfluss läuft – das muss man noch erforschen. Ich habe das mal in den USA in einem Nationalpark erlebt, wo ich mir abends ein Zelt aufgebaut habe und am nächsten Morgen aufgestanden bin. Der ganze Wald war von einer Nacht auf die nächste gelb geworden. Mein Eindruck war: „Ich stehe in einem riesengroßen Organismus, wo es nicht einzelne Bäume gibt, sondern Kollektive!“ Müssen wir uns den Wald eigentlich wie ganz viele einzelne Teile eines großen Organismus vorstellen? Das ist die große Frage! Sind Bäume Individuen? Ich würde das schon bejahen. Sie sind zwar nicht wie die Zellen eines Körpers, aber trotzdem funktionieren sie wie ein Organismus zusammen. Übrigens: Das Beispiel, das Sie da gerade gebracht haben, dass Bäume so synchron reagieren – das ist normalerweise nicht der Fall. Es deutet eher darauf hin, dass dieser Wald „ein einziger Baum“ war. Solche Phänomene gibt es in den USA. Das größte Baum-Lebewesen der Welt – es heißt Pando und steht in Utah – ist eine Zitterpappel. Das ist eine Kolonie mit 47.000 Stämmen, die aber tatsächlich alle aus einer Wurzel stammen, die sich über gut 43 Hektar ausgebreitet hat. Das ist dann ein Baum, und wahrscheinlich der älteste der Welt. Man rechnet mit einem Alter von mehreren 10.000 Jahren. Heilsamer Wald Wie definieren Sie eigentlich den Modebegriff Waldbaden? Inwieweit geht es dabei um mehr als nur den Aufenthalt im nächsten Wald? Den Begriff Waldbaden fand ich am Anfang sehr merkwürdig und habe gedacht: Man kann doch auch einfach so in den Wald gehen, ohne Anleitung! Mittlerweile bieten wir aber so etwas wie Waldbaden in unserer Waldakademie an, weil ich gelernt habe: Wir Menschen wollen oft nur Kilometer machen, Höhenmeter, diese ganzen Dinge. Was zählt, ist die Leistung. Und wir haben meist auch einen bestimmten Plan, wann wir wieder am Parkplatz zurück sein wollen. Dabei nehmen wir gar nicht mehr richtig wahr, wie es draußen riecht und was wir hören. Aber Waldbaden heißt ja, man lässt sich wirklich auf den Wald ein. Man legt sich vielleicht sogar mal für eine ganze Stunde unter einen Baum, guckt einfach in die Blätter und lässt sie auf sich wirken. Dazu kommt, dass man, wenn man ganz tief atmet, die vielen wertvollen Terpene einatmet, die die Bäume ausströmen. Das sind Duftstoffe, über die Bäume miteinander kommunizieren. Und man weiß ja mittlerweile, dass diese Stoffe auch positiv auf den Blutdruck wirken. Oder auf Killerzellen, die Krebs bekämpfen. Und auch die optischen Eindrücke im Wald sind gesundheitsfördernd. Selbst wenn Sie von einem Krankenhaus-Zimmer auf einen Baum schauen, brauchen Sie weniger Schmerzmittel und werden früher wieder gesund. Forderungen an die Politik Sie haben u. a. ein Buch über das „Netzwerk der Natur“ veröffentlicht. Was sind denn die wichtigsten Aufhängungspunkte in diesem Netzwerk, wenn wir uns das mal wie ein großes Spinnennetz vorstellen? Es gibt ein großes Netzwerk, das ist die Erde selbst. Und dazwischen sind ganz viele kleinere Netzwerke gespannt, ähnlich wie in einem Fischernetz. Aber wir müssen uns das Ganze in Hunderten von Etagen vorstellen, die auch untereinander wieder verknüpft sind. Das heißt, es ist eigentlich schwer zu durchschauen, wer mit wem etwas zu tun hat. Ein einfaches Beispiel: Was wir lange nicht gewusst haben, ist, dass manche Laubbäume sich im Herbst rot verfärben, weil sie Angst vor Virus-Erkrankungen haben und sich deswegen vor Blattläusen tarnen, die die rote Farbe nicht sehen. Da gibt es also wirklich viele Verknüpfungen, die wir noch überhaupt nicht verstehen. Und das, was wir im Moment machen, ist: Wir verstehen es nicht, aber wir schneiden überall die Knotenpunkte durch. Und wie bei einem Fischernetz ist es dann eben auch so, dass es irgendwann mal reißt. Und das muss man verhindern! Was sind denn Ihre zentralen Forderungen an die Politik und an die Forstwirtschaft? Wir brauchen mehr große zusammenhängende Schutzgebiete, weil wir eben noch nicht genau wissen, was da passiert. Wir brauchen eine Art Rettungsinsel für solche Netzwerke, um sie aufrechtzuerhalten, um die Arten, die wir teilweise noch nicht einmal entdeckt haben, alle zu bewahren, damit sie sich später wieder ausbreiten können, wenn wir der Natur wieder mehr Raum geben. In Deutschland wäre das eigentlich sehr gut möglich. Wir haben fast so viel Tierfutterfläche wie Waldfläche. Und wenn wir unseren tierischen Konsum etwas zurückfahren würden, könnten wir Zehntausende Quadratkilometer für große Nationalparks frei machen – für wirkliche Schutzflächen, wo der Wald sich selbst wieder zurückentwickeln darf. Das ist übrigens genau das, was wir aktuell von den Ländern des globalen Südens fordern. Warum nicht auch bei uns? Wir haben in Deutschland gerade einmal 0,6 % geschützte Wildnisgebiete, wo die Natur wirklich allein machen darf. Haben Sie auch aus diesem Grund das „Urwaldprojekt“ ins Leben gerufen? Wir haben so etwas wie ein „Urwaldprojekt“ initiiert, wo wir im kommunalen Waldbereich alte Laubwälder für viele Jahrzehnte pachten. Die Gemeinde bekommt eine Kompensation für ihre Holzeinnahmen, und der Wald darf dann selbst machen. Und das Schöne ist: Wir profitieren alle davon. In einem stillgelegten Wald singen die Vögel weiter, man darf auch hindurchwandern, kann sich am Wald erfreuen. Es läuft keine Motorsäge. Und der Wald produziert Wolken, er produziert Grundwasser, und er produziert vor allem Kühle. So ein intakter alter Laubwald kann sich im Vergleich zu einer Stadt wie München im Sommer im Schnitt um 15 °C herunterkühlen. Das muss man sich mal überlegen. Welche Probleme haben wir denn im Klimawandel? Hitze und Trockenheit! Und beides mag der Wald auch nicht. Und wenn wir ihm nicht ständig ein Bein mit der Motorsäge stellen würden, würde er das schon regeln. Auch wir würden massiv davon profitieren. Das ist einfach eine andere Art der Waldwirtschaft. Und die könnte man den Waldbesitzern auch entgelten. Die Gesellschaft will das ja: weniger Holz, mehr Kühlung, mehr Wasser. Da muss man eben verhandeln, wie viel wir von allem gern hätten. Alles auf einmal geht natürlich nicht, also ganz viel Holz und ganz viel Kühlung. Aber was wenig Kühlung macht – das sehen wir ja gerade. Das führt dann zum Absterben großer Waldflächen. Die von Ihnen gegründete Waldakademie ist ja eigentlich eine zivilgesellschaftliche Bildungseinrichtung. Bräuchten wir nicht mehr von solchen Akademien, weil es Wissenschaft und öffentliche Bildungseinrichtungen offensichtlich nicht auf die Reihe kriegen, ein neues Narrativ vom Wald zu vermitteln? Dass die wirtschaftliche Zerstörung unserer Wälder hierzulande immer noch weitergeht, hängt schon auch mit der „Erzählung“ zusammen. Die Forstwirtschaft erzählt weiter krampfhaft, dass dem Wald die Holznutzung nützt. Man sagt: „Der braucht das Ausdünnen und den Maschineneinsatz, sonst stirbt er.“ Das wird tatsächlich immer noch so behauptet. Und dann denke ich immer: „Hmm, also wenn ich mir das jetzt im Amazonas-Gebiet vorstelle – das wäre die Katastrophe im Quadrat!“ Hoffentlich wird das dort nicht gemacht! Aber in Deutschland soll es das Mittel sein, um den Wald zu retten? Das ist es natürlich nicht! Aber noch gibt es diese Erzählung: „Möglichst viel Holz nutzen ist gut!“ Obwohl der Wald zusehends ausblutet und die Leute das bei jedem Spaziergang auch sehen. Und da versuchen wir, ein bisschen aufzuklären. Denn aktuell kommt die Waldbildung noch aus der Forstwirtschaft. Und das ist einfach schwierig. Deswegen haben wir uns auch entschlossen, selbst Waldführerinnen und Waldführer auszubilden, die dann freiberuflich in ihrer jeweiligen Heimatregion Führungen anbieten. Ich habe selbst mal erlebt, dass Naturführer, die von den Landesforstverwaltungen ausgebildet worden sind, erklären, warum Kahlschläge gut sind. Und da haben wir irgendwann gesagt: „Nein, Freunde, das müssen wir selbst in die Hand nehmen!“ Herr Wohlleben, herzlichen Dank für dieses Gespräch! Geseko von Lüpke Über den Autor Dr. Geseko von Lüpke arbeitet als Journalist für Rundfunk und Printmedien und ist Autor zahlreicher Buchpublikationen mit den Schwerpunkten nachhaltige Zukunftsgestaltung, ökologische Ethik, ganzheitliche Wissenschaft und Spiritualität. Literatur • Peter Wohlleben und Pierre L. Ibisch: Waldwissen. Vom Wald her die Welt verstehen. Erstaunliche Erkenntnisse über den Wald, den Menschen und unsere Zukunft. Ludwig Verlag, 2023. • Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. Penguin Verlag, 2018.

Der Artikel "Den Wald neu denken" ist Teil der Audio-Ausgabe April 2023

Den Wald neu denken

„Wir müssen uns im Kopf umstellen, was unser Verständnis von Bäumen und Pflanzen angeht.“

Editorial April 2023 · Kein Grund, den Mut zu verlieren · Den Wald neu denken · Galaktose · Das Eisenmangel-Syndrom nach Corona-Impfung und -Infektion · Faszien · Multitalent Bärlauch · April 2023 – Die neuen Pflänzchen schützen · PLUS: Die komplette Ausgabe in einem Track

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