Der fraktale Bauplan der Psyche

Wenn sich Muster wiederholen, im Kleinen wie im Großen: Was die Geometrie als Fraktale kennt, hat der Arzt, Psychologe, Psychotherapeut und Psychoneuroimmunologe Prof. Dr. Dr. Christian Schubert als Sprache von Traumata identifiziert. Ein Gespräch über „Zufälle“, die keine sind, Fraktal-Diagnostik als verblüffende Abkürzung in der Psychotherapie und das Einssein von Körper, Geist und Seele. Interview mit Prof. Dr. Dr. Christian Schubert Prof. Schubert, Sie haben einen neuen Blick auf die menschliche Psyche entwickelt, die Fraktal-Diagnostik, und darüber ein Buch mit dem Titel „Geometrie der Seele“ geschrieben. Bevor wir uns dies näher ansehen: Was ist ein Fraktal? Ein Fraktal ist ein geometrisches Muster, bei dem sich das Ganze in seinen Teilen selbstähnlich widerspiegelt. Das Große findet sich im Kleinen, das Kleine zeigt sich im Großen. Denken Sie an einen Baum: Er besteht aus Stamm, Ästen, Zweigen und Krone. Diese Struktur wiederholt sich. Ein Ast gleicht dem Stamm, die Zweige gleichen den Ästen des Baumes, die Blätter der Krone. Selbst ein Blatt ist seiner Form nach wie der Baum aufgebaut, nur in deutlich kleinerem Maßstab. Gibt es noch mehr Beispiele? Überall in der Natur: Berge, Flüsse, Küstenverläufe. Je näher und detaillierter man sie betrachtet, desto verästelter werden sie, als würden sie sich in immer kleinerem Maßstab selbst kopieren: Kürzere Abschnitte ähneln dem Aussehen der gesamten Küstenlinie. Auch der Gefäßbaum im Menschen mit seinen Arterien und Venen ist so aufgebaut, ebenso der Darm mit seinen vielen Zotten. Und was ist daran das Besondere? Was ich gerade beschrieben habe, wird als sogenannte Skaleninvarianz oder Selbstähnlichkeit bezeichnet: Ein Ganzes wiederholt sich im Detail oder in Teilen. Eine Skala kann eine Strecke beschreiben in Metern, Zentimetern und Millimetern oder etwa auch einen Zeitraum mit Stunden, Minuten, Sekunden. Dabei bleibt die Form oder die Eigenschaft immer gleich. Ein Fraktal ist zudem nicht linear, nicht gerade. Wir kennen aus der Schule Kreise, Quadrate, Dreiecke. Daraus kann man wunderbar Maschinen bauen, Autos, Häuser, Möbel, aber damit lässt sich nicht die Natur beschreiben. Denken Sie nur an so ein zackiges Blatt, das Sie vermessen wollen. Das geht kaum, weil die Zacken zum Teil winzig klein sind. Wiederkehrende Muster in der Biografie Fraktale stammen also eigentlich aus der Mathematik, Sie nutzen sie nun aber, um die Psyche eines Menschen besser zu verstehen. Wie funktioniert das? Die Psyche ist, wie die Natur, ein verästeltes Ding. Im Gespräch mit Patienten achte ich darauf, ob sich in deren Biografie wiederkehrende Muster zeigen. Diese äußern sich etwa durch wiederholte Erfahrungen und damit verbundene Gefühle. Auch durch Zahlen, die sich rhythmisch wiederholen, oder durch ein Wort, das ein Mensch immer wieder gebraucht. In der Regel werden solche Muster nicht bemerkt, sie sind unbewusst – wie eine nahezu lautlose Hintergrundmelodie im eigenen Leben, die gleichzeitig stark prägend ist. Kleine Zweiglein verweisen auf größere Äste und letztlich auf den gesamten Baum. Oder in der Sprache der Psychologie: Die emotionale Reaktion auf eine bestimmte Situation kann uns zurückführen zu ähnlichen Reaktionen früher im Leben und schließlich zu einem Trauma, das die Ursache dafür ist. Ein winziges Stück aus der Biografie eines Menschen kann so Einblicke in das Große und Ganze gewähren. Dabei können Schmerz, Angst, Wut oder Scham hochkommen. Aber zugleich macht es den Patienten auch Freude, Muster in ihrem eigenen Leben aufzuspüren. Das führt zu Erkenntnisgewinn und buchstäblich Selbstbewusstsein – Bewusstsein über sich selbst, und damit auch zu der Kraft und dem Willen, aktiv etwas zu verändern und bisherige Verhaltensmuster aufzugeben. Fraktale im Psychischen sind immer unbewusst? Sie können ein Fraktal nicht bewusst bauen. Es ist zu sehr gespeist von unbewussten Bedeutungszusammenhängen, die im Menschen drinnen und von außen nicht einsichtig sind. Aber über die Fraktale kann man Unbewusstes zumindest sehen, über Muster, die es hervorbringt. Das ist ähnlich wie beim Wind: Ihn selbst sieht man nicht, aber seine Dynamik lässt sich daran erkennen, wie er die Blätter eines Baumes bewegt. Fraktale können sich „zerstäuben“ Wie kann das konkret aussehen? Eine Patientin von mir ist Erbin eines Familienunternehmens in der Baubranche. Eigentlich war der Bruder für die Nachfolge vorgesehen, aber er lehnte ab. Also arbeitete die Schwester sich ein, mit der Zeit nahm sie aber deutlich an Gewicht zu. Das allein war schon ein Hinweis auf starke Belastungen und einen drohenden Burn-out. Im Gespräch dann zeigte sich eher nebenbei, dass sie etwa alle 10 Jahre in Lebensgefahr gerät – durch eine bedrohliche Erkrankung im Urlaub, die dramatische Geburt eines Kindes, einen schweren Autounfall. Selbst ihre eigene Geburt passt in diesen Rhythmus. Es ist anzunehmen, dass auch diese schon existenzbedrohlich war. Es ging immer gut aus, weil immer ein „Retter“ zugegen war, der Vater oder der Ehemann, ein Arzt. Aufgearbeitet wurde aber nichts. Wie sich später zeigte, war dies typisch für ihre Herkunftsfamilie: Über Probleme wurde nicht gesprochen. Die lebensgefährlichen Situationen brachten es jedoch mit sich, dass die Patientin zumindest immer wieder eine Auszeit bekam in einem Alltag, von dem sie sich zunehmend überlastet fühlte – seelisch und körperlich, was sich eben auch sichtbar in ihrem Übergewicht äußerte. Gleichzeitig „verdünnisierte“ sich die Patientin, wenn es in ihrem Leben schwierig wurde. Und änderte sich etwas, als der Patientin dieses Muster bewusst geworden war? Sieben Monate nach der ersten Psychotherapie-Stunde hatte sie 20 kg abgenommen. Sie hatte sich einst von den Gesellschaftern in der väterlichen Firma nicht „für voll genommen“ gefühlt, später sollten zusätzliche Pfunde ihr „Gewicht“ geben. All das brauchte sie nun nicht mehr, ebenso wenig „Retter“. Sie übernahm nun selbst Verantwortung und gestand ihrem Vater auch einen gravierenden Fauxpas, der ihr unterlaufen war, für den sie aber auch geradestand. Das Fraktal selbst begann sich, wie ich gern sage, zu zerstäuben. Die Patientin braucht es nicht mehr. Sind die nächsten 10 Jahre um, sollte kein lebensbedrohliches Ereignis diesen Punkt mehr markieren. Fraktale erkennen und ihnen vorbeugen Sie nennen diesen Aspekt Fraktal-Prävention oder Fraktal-Prognostik. Haben Sie noch ein weiteres Beispiel dafür? Sogar ein aktuelles, das noch nicht im Buch steht. Einige Details sind daher verändert, die Essenz stimmt aber. Erst kürzlich kam eine Frau wegen Alkohol- und Drogenproblemen zu mir. Sie war Mitte 40, ehrgeizig, erfolgreiche Geschäftsführerin, verheiratet und hatte zwei Töchter, 5 und 2,5 Jahre alt. Sie brauche meine Hilfe. Ich sei der erste Psychotherapeut, den sie kontaktiere. Immer wieder falle sie unter Alkohol- und Drogeneinfluss unangenehm auf, sie würde mit anderen Männern kurze Verhältnisse anfangen, die ihr zwar nichts bedeuteten, ihre Ehe aber zunehmend gefährdeten. Sie selbst wurde sehr früh von ihrer Mutter getrennt, im Alter von 3 Jahren. Die Mutter verließ damals den Vater, weil sie dem Alkohol und anderen Männern verfallen war. Der Vater erhielt das Sorgerecht für die heutige Patientin und ihren Bruder und heiratete später erneut. Ihre Mutter sah die Patientin nur einmal wieder, an ihrem 18. Geburtstag. Dass die Frau nun genau in diesem Moment zu mir kam, dürfte eng mit dem Alter ihrer jüngsten Tochter zu tun haben: 2,5 Jahre. Bald würde diese 3 Jahre alt werden und sich mit hoher Wahrscheinlichkeit, so die fraktale Idee, der Verlust der Mutter wiederholen. Und Ihre Patientin hat dies unterbewusst wahrgenommen und Sie aufgesucht, um genau das zu vermeiden? Das nehme ich an. Sie möchte ihre jüngere Tochter schützen. Wobei die Quelle des Fraktals, das ursprüngliche Trauma, nicht nur der Verlust der Mutter ist, sondern auch das ganze Drumherum, das dazu geführt hat: die Verbindung aus Alkohol, Drogen, Beziehungen zu anderen Männern und die Schädigung wertvoller Familienstrukturen. Die Patientin fragte mich wiederholt, ob sie mit ihrer Mutter, die nicht weit entfernt lebte, Kontakt aufnehmen solle. Was haben Sie ihr geantwortet? Ich habe ihr geraten, eine Psychotherapie zu beginnen und dann eingebettet in diesen geschützten Rahmen ihre Mutter zu besuchen. Andernfalls könnte es geschehen, dass die Begegnung nach all den Jahren eher zu einer Retraumatisierung führt und es sogar zu einer Wiederholung des Fraktals kommt statt zu dessen Lösung. Dann würde das Trauma, das diese Frau erlebt hat, wohl auch an ihre Tochter und damit an die nächste Generation weitergegeben. Einstiegsluke in das persönliche Drama Sie haben diese Frau nur einmal gesehen, im Rahmen eines psychotherapeutischen Erstgesprächs in einem Gesundheitsresort. Die Fraktal-Diagnostik kann offenbar in sehr kurzer Zeit sehr tief gehen. Kann sie Patienten aber auch überfordern? Viele Patienten, die ich in der Tat nur einmal sehe, berichten mir erstaunt, dass wir in einer Stunde mehr herausfinden als in Monaten und Jahren bei ihrem Therapeuten. Sie sind oft sehr berührt, weil sich etwas wirklich Bedeutungsvolles ereignet – etwas, das ihre Erfahrungen in einen Zusammenhang stellt, eine Verbindung schafft. Gemeinsam finden wir eine Einstiegsluke in ihr persönliches Drama. Man erwischt sozusagen einen Zipfel, mit dem die Menschen weiterarbeiten können. Gleichzeitig gehe ich sehr behutsam vor, und die Betreffenden erhalten auf einer sehr kognitiv-rationalen Ebene Einblick. Das mindert Ängste und stärkt die Selbstwirksamkeit. Inzwischen spreche ich Fraktale immer offen an, sobald sie sich mir zeigen. Patienten steht damit ein Reflexionsbereich zur Verfügung, den sie zuvor nicht hatten. Das eigene Leben bekommt so eine größere Sinnhaftigkeit und erscheint nicht länger als ein Ablauf zufälliger Ereignisse? Absolut. Allerdings hat unsere Kultur es uns fast schon abtrainiert, eine solche Innenschau zu betreiben und in Bedeutungen zu denken. Wir sind es nicht mehr gewohnt, dass wir uns mit uns selbst wirklich auseinandersetzen, in Kommunikation gehen, unbewusste Phänomene annehmen und seelische oder körperliche Erkrankungen als Symbole sehen. Ein Mensch kann vielleicht nicht verbalisieren, was ihn bedrückt. Er ist sich dessen vielleicht nicht einmal bewusst, aber über seine Symptome bringt er zum Ausdruck, was mit ihm los ist. Für mein Verständnis ist es die Aufgabe eines Therapeuten, solche Symbole zu entziffern. Die moderne Medizin ist hingegen darauf spezialisiert, sie „wegzumachen“, und chronifiziert so die Probleme der Menschen. Werden solche wichtigen Warnsignale jedoch immer entfernt, sind die Patienten geradezu gezwungen, ihre Fraktale weiter auszubilden. Fraktale verbinden Ebenen des Seins Sie sind Arzt, Psychologe und Psychotherapeut. Wie sind Sie dazu gekommen, Fraktale in der menschlichen Psyche aufzuspüren? Ich habe immer schon psychosomatisch gedacht. Hat jemand Bluthochdruck, bringt das für mich zum Ausdruck, dass er einen seelischen Druck verspürt, der sich eben auch körperlich manifestiert. Der Begriff der Psychosomatik benennt eine Verbindung zwischen Körper und Psyche, wobei bisher niemand die Schnittstelle gefunden hat. Vielleicht, weil es sie in diesem Sinne gar nicht gibt? Weil alles eins ist und sich nur synchron auf verschiedenen Ebenen des Seins äußert? Neurologen, Neurobiologen und selbst Psychologen denken oft mechanistisch, linear und suchen die „Schnittstelle“ zwischen Leib und Seele. Das Fraktale hingegen gleicht Sprüngen und verbindet verschiedene Ebenen des Seins durch Symptome miteinander. Zum ersten Mal so richtig bewusst wurde mir dies, als ich mich mit dem Leben und dem Werk von Joseph Beuys beschäftigt habe. Wie hat Beuys Sie für Fraktale in der Seele sensibilisiert? Bei dem Menschen und Künstler Joseph Beuys fiel mir auf, dass es auf verschiedene Art und Weise immer wieder um ein Erstickungstrauma ging. In seinem Leben bildete es sich im Privaten, im Psychologischen, im Sozialen und im Künstlerischen ab. Das sind häufig die Skalen, nicht nur bei ihm. Als Erstes fiel mir Beuys’ Gedicht „Das Geheimnis der Knospe zarter Hülle“ von 1941–1943 auf, worin es um die alles erstickende Kraft des Winters geht, durch eine dicke Schneedecke oder -hülle. Biografisch folgte im Zweiten Weltkrieg, wo er als Soldat an der ukrainischen Ostfront diente, ein Absturz mit seinem Flugzeug: verursacht durch dichten Schneefall, „die Scheiben werden vom Schnee verkleistert“, schrieb er später. Und dass ihn, den Schwerverletzten, Nomaden fanden und mitnahmen, in ihre Zelte aus Filz: „Sie rieben meinen Körper mit Fett ein und wickelten mich in Filz ein, weil Filz die Wärme hält.“ Diese Schilderung gilt übrigens als Mythos und hat sich nicht zwingend so zugetragen. Das Trauma aber fand rund 15 Jahre später seinen Ausdruck in einer Installation, für die Beuys einen Flügel in Filz einnähte, sodass er keinen Ton mehr von sich zu geben vermochte. Das einhüllende Fett sollte als künstlerische „Fettecke“ wiederkehren. Am Ende seines Lebens litt Beuys an einer interstitiellen Pneumonie, einer speziellen Form der Lungenentzündung, bei der die Bindegewebshülle um die Lungenbläschen verhärtet und das Atmen zunehmend erschwert und schließlich zu einem Tod durch Herzversagen führt. Wie ein ständiger Appell Und daraus haben Sie eine grundlegende Vorgehensweise für die Fraktal-Diagnostik und -Therapie abgeleitet? Ich möchte es so formulieren: Ein emotional bedeutsames und psychisch sehr belastendes, traumatisierendes Erlebnis bildet sich in den Jahren danach und über die gesamte Lebenszeit hinweg in durchgängiger, selbstähnlicher und musterartiger Wiederholung in allen Systemen der biopsychosozialen Schichten ab: im Sozialen und Zwischenmenschlichen in traumaassoziierten, selbstähnlichen, symbolischen Äußerungen bei der Wortwahl und im Verhalten; im Psychologischen in bestimmten, dem Traumathema selbstähnlichen Erlebens- und Verhaltensmanifestationen; im Biologischen z. B. dadurch, dass dieser Mensch eine spezifische Krankheit ausbildet, die das Erlebte im Körperlichen repräsentiert und in gewisser Weise unbewusst reinszeniert. Unsere Selbstverantwortung besteht darin, uns mit unseren Gespenstern zu befassen, und wer das tut, kann durchaus einen Heilungsprozess durchmachen und größere Freiheit erlangen. Als Therapeut würde ich sagen: Das Wichtigste, was wir im Leben erlangen können, ist Autonomie, emotionale Autonomie. Das heißt, ich kann das machen, was ich will. Nicht, was mir die Eltern mitgegeben haben, was ich machen soll oder meine, tun zu müssen. Ich muss auch keinen anderen zwingen, etwas zu tun oder zu lassen, damit ich mich gut fühle. Diese Autonomie halte ich für das Gesündeste überhaupt. Das ist das Ziel unseres Lebens. Und für mich bedeutet das eine enorme Selbstverantwortung. Sind Fraktale womöglich eine Art Selbstheilungsversuch der Psyche? Ich würde eher sagen, sie erinnern an ein Konfliktthema, das es noch zu lösen gilt. Je länger jemand das nicht schafft, desto öfter erinnert ihn das Fraktal daran. Wie ein ständiger Appell: Bitte löse dieses innerseelische Problem! Mach es für dich und die nächste Generation! Psychoneuroimmunologie und Fraktal-Diagnostik Fraktale können sich in der Mathematik bis ins Unendliche fortsetzen. Wie ist das im Leben? Werden sie womöglich drastischer, um den Menschen immer deutlicher aufzufordern, sich mit ihnen zu beschäftigen? Dazu müssen wir noch mehr forschen. Spontan würde ich sagen, ein Fraktal ist und bleibt ein Warnsignal. Es wiederholt sich, doch es findet keine Steigerung bis zu einem Punkt statt, an dem eine Bearbeitung nicht mehr möglich ist. Das gilt für die großen Fraktale im Leben wie auch für die kleinen im Alltag. Meine Mitarbeiter und ich forschen im Labor für Psychoneuroimmunologie an der Medizinischen Universität Innsbruck an ebensolchen Zyklen, auf der Basis 1- bis 2-monatiger, integrativer Einzelfallstudien. Dafür sammeln die Teilnehmenden über mehrere Wochen hinweg täglich 2-mal ihren Harn. Wir untersuchen ihn und können alles Mögliche analysieren: Immunwerte, das Stresshormon Cortisol und so weiter. Die Werte schwanken natürlich, und unsere Frage lautet: Spiegeln diese Schwankungen womöglich die Alltagsrealität dieser Menschen wieder? In der Tat kommt immer wieder eine bestimmte Art von Stressoren vor, es geht den Menschen dadurch psychisch schlechter, und der Cortisolwert im Urin steigt. Ist der Stressor besonders stark, steigt der Cortisolwert auch noch deutlicher. Aber er fällt auch danach wieder. Wir haben also Ereignisse im Außen, die sich auf der seelischen Ebene spiegeln. Sie führen zu einer psychoimmunologischen Reaktion und damit zu biopsychosozialen Fraktalen. Haben Sie hier noch ein Beispiel, wo sich Psychoneuroimmunologie und Fraktal-Diagnostik verbinden? Zu unseren Teilnehmenden gehört eine Frau, die an Brustkrebs erkrankt ist. Wir haben entdeckt, dass sie im Zusammenhang mit bestimmten alternativmedizinischen Therapien immer wieder das Wort „wahnsinnig“ verwendete: Die Interventionen täten ihr „wahnsinnig gut“, etwas dabei war „wahnsinnig schön“, sie lerne dabei „wahnsinnig viel“. Es gäbe noch weitere Beispiele. In regelmäßiger zeitlicher Verbindung zu den als „wahnsinnig“ erlebten Therapien gingen Entzündungswerte und Krebsmarker runter und etwa der Wert von Interleukin-6 als günstiger Immunfaktor rauf. Wir wissen noch nicht, was genau sie mit dem Begriff meint und wieso sie genau diesen so oft verwendet. Klar aber ist: Sie verbindet damit etwas sehr Wohltuendes. Individualisierte Medizin ist einer der aktuellen Trends in der Medizin, bezieht sich meist aber auf Genetik. Ginge es nicht aber gerade auch darum, die Wortwahl eines Menschen wahrzunehmen? Genau zuzuhören, um zu verstehen, was die Ursache seiner Beschwerden ist? Ist Fraktal-Diagnostik nicht die wahrhaft individualisierte Medizin? Aber natürlich! Wo ich Komplexität zulasse, als Arzt, als Therapeut und als Forscher, muss ich mich mit dem Individuum und seiner Tiefe befassen. Dort zeigt sich Komplexität, nicht in der Masse. So wie der Darm durch seine Fraktalisierung in Zotten eine sehr große Kontaktfläche auf engstem Raum schafft, ist der Mensch psychisch gesund, wenn er große Kontaktflächen mit dem Leben und vielen anderen, verschiedenen Menschen hat. Bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Angsterkrankungen tritt genau das Gegenteil ein, da fehlt genau dieser Austausch. Das Ziel jeder Therapie muss es sein, diese „Fläche“ individuell wieder zu vergrößern und innerlich weit zu werden, letztlich bis ins Unendliche. Herr Prof. Schubert, herzlichen Dank für dieses Gespräch! Andrea Freund Über die Autorin Andrea Freund ist Autorin und Redakteurin, ausgebildet als Heilpraktikerin für Psychotherapie (KVT), in Spiritueller Astrologie sowie als Yogalehrerin. Literatur • Prof. Christian Schubert: Geometrie der Seele. Wie unbewusste Muster das Drehbuch unseres Lebens bestimmen. Gräfe und Unzer Edition, 2023.

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