Die blaue Perle

Sie sollten der Beginn eines Weltbildwandels werden: die ersten Aufnahmen unserer aufsteigenden leuchtenden Erdkugel im All. Nur wenige hundert Astronauten haben bislang unseren Heimatplaneten vom Weltall aus gesehen – ein Blick, der sie für immer verändert hat. Ein Blick, der einhergeht mit tranceähnlichen Zuständen und Gefühlen der Überwältigung, Ehrfurcht, tiefen Verbundenheit und bedingungslosen Liebe. Sie flogen zum Mond. Doch was passierte, war, dass sie die Erde entdeckten. Es waren die Weihnachtstage vor 55 Jahren, als die Astronauten-Crew aus Jim Lovell, Frank Borman und Bill Anders sich im Dezember 1968 auf die Spitze der stärksten Rakete der damaligen Welt setzte und sich auf einem Feuerstrahl mit 84 Millionen Pferdestärken schneller als eine Gewehrkugel in den Himmel schießen ließ. Sie sollten die historische Landung auf dem Erdtrabanten vorbereiten und als erste Menschen den Mond umrunden. Nach 64 Stunden und 240.000 zurückgelegten Kilometern gelang es ihnen am Heiligen Abend, in die Umlaufbahn des Mondes einzuschwenken. Sie sollten ihn, hoch konzentriert auf die Steuerung, viermal umrunden, bis der Astronaut Bill Anders aus dem Fenster des Raumschiffs blickte – und sah, was noch niemand je gesehen hatte: „Da war dieser fantastische Himmelskörper: Über dem Horizont der Mondoberfläche erschien die Erde. Und sie war wunderschön! Sie war das Einzige in diesem ganzen dunklen Universum, was Farbe hatte. Ich griff zur Kamera und machte ein Dutzend Fotos nacheinander und hielt den Erd-Aufgang mit jedem Klick fest.“ Die Aufnahme vom „Earthrise“ – dem „Erd-Aufgang“ – sollte zu einem der berühmtesten Fotos in der Geschichte der Fotografie werden: ein Bild der Erde, wie sie über der grauen Mondoberfläche als blaue Perle in die endlose Schwärze des Weltraums steigt. Klein, leuchtend, zart. Bilder, die Milliarden Erdlingen bis in die Seele reichten und ein größeres Zuhause zeigten: den Heimatplaneten. Es waren Aufnahmen mit ungeahnten Folgen, die weit hinausgingen über den technischen Erfolg der Mondmission der Apollo-Flüge in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren. Es waren Aufnahmen, die das öffentliche Bewusstsein verändern sollten und Tausende von Umweltinitiativen auslösten – ja, die das Welt- und Menschenbild langfristig verändern sollten. Katapultiert in einen anderen Bewusstseinszustand Zigtausende von Aufnahmen sind seither von der Erde gemacht worden. Doch selten wird den entsprechenden Berichten jener wenigen rund hundert Männer und Frauen gelauscht, die bislang Gelegenheit hatten, den Heimatplaneten vom Weltall aus mit eigenen Augen zu sehen. Und die im Moment des Verlassens der Erdatmosphäre unerwartet in einen anderen Bewusstseinszustand katapultiert wurden, von dem es zu hören lohnt. „Plötzlich ist es sehr still. Und diese Veränderung fühlt sich an, als beträtest du ein Traumland“, berichtete der kanadische Shuttle-Pilot Marc Garneau, „du bist verkehrt rum, weil das Shuttle im Weltraum kopfüber ankommt. Absolute Stille, alles schweigt, alle gucken sich mit großen Augen an.“ Jeder der Astronauten hat jahrelang jeden Handgriff geübt, kennt jeden Knopf aus der Simulation am Boden – Fehler dürfen nicht passieren in dieser technischen Kunstwelt: Ratio pur. Und trotzdem ist im All alles anders, fremd, nie da gewesen. Oben und unten, Boden und Decke gibt es nicht mehr. Links und rechts hören auf zu existieren. Fallen ist nicht möglich, das Körpergefühl schwindet, man schwebt nur noch. Moment des fassungslosen Staunens Leicht und schwerelos einerseits. Losgelassen, abgetrennt, ohne Nabelschnur zu Mutter Erde andererseits. „Die Technik muss funktionieren, damit Sie wieder runterkommen. Wenn was schiefgeht, bleiben Sie draußen. Sie kommen nicht mehr zurück. Dessen werden Sie sich sofort bewusst“, beschreibt der deutsche Experimental-Physiker und Astronaut Reinhard Furrer diese nie da gewesene Situation für Seele und Körper. In dieser Situation sucht fast jeder Astronaut Orientierung, Anschluss an Gewohntes, die Rückbindung zur Erde. Sobald die eng getakteten Arbeitsabläufe es zulassen, wird der Blick nach unten gesucht – durch das Bullauge der Mondrakete oder das Panoramafenster in der Weltraumstation ISS. Und das ist der nächste Moment des fassungslosen Staunens: Einerseits zieht da etwas Lebendes vorbei, was bislang nur auf den leblosen Karten des Atlas zu sehen war: Kontinente, Weltmeere und Küstenlinien, Gebirge, Flüsse von der Quelle bis zur Mündung, die riesigen Wolken-Spiralen der Tiefdruckgebiete. Die Ratio erkennt: Afrika, das Mittelmeer, Europa, sucht nach dem eigenen Land, der eigenen Stadt, dem eigenen Viertel. Die Seele aber sieht Schönheit, keine Ländergrenzen, nur ein zartblaues Aquarell, ein Kunstwerk aus Formen und Licht. Wehende farbige Vorhänge aus Nordlichtern, Feuerwerke aus Gewitter-Blitzen, Wechsel von Tag und Nacht, die funkelnden Lichtermeere der Städte. „Es ist ein unglaublicher Anblick“, beschreibt Mae Jemison, amerikanische ISS-Astronautin, ihren ersten Blick auf den Heimatplanten: „Ich sah auf diese hauchdünne Schicht aus blauem Licht, welche die Erde umgibt. Es sah fast aus, als würde sie von innen heraus leuchten.“ „Dieser allererste Blick hinunter war ein absoluter Gänsehaut-Moment: die Erde zu sehen!“ bestätigt auch der deutsche ISS-Astronaut Matthias Maurer nach seiner Rückkehr aus dem All im Mai 2022. „Man gewinnt ein Gefühl für die Ganzheit dieser Erde, dass alles zusammengehört!“ Rusty Schweikart, amerikanischer Apollo 9 und Skylab-Pilot, fand gar poetische Metaphern: „Dort, unter dieser hauchdünnen Atmosphäre, ist das unermessliche Leben, was wir kennen. Alles: Leben und Tod, Tanz und Gesang, Schmerz und Trauer, spielende Kinder – alles ist auf dieser Welt.“ Gefühle der Überwältigung und Gänsehaut angesichts der Schönheit und Diversität, der Ganzheit und Großartigkeit – und nicht selten religiöse Gefühle, die nicht ins Ausbildungsprogramm der Raumfahrer gehören. Lebendige Ganzheit des Planeten So kann sich beim Blick auf die Erde beides gleichzeitig ergeben: das irritierende Gefühl, ausgeschlossen und abgetrennt vom Heimatplaneten zu sein, der einen jenseits der Schwerkraft buchstäblich nicht mehr anzieht. Und zugleich ein Gefühl tiefer Berührung, staunender Ehrfurcht und stiller meditativer Verehrung. Astronauten aus allen Kulturen berichten übereinstimmend von tranceähnlichen Zuständen, in denen sie die lebendige Ganzheit des Planeten Erde wahrgenommen hätten. Sie sahen sie nicht länger als einen von Ideologien, Nationalismen und rivalisierenden Religionen zerrissenen Kriegsschauplatz, sondern als buchstäblich „himmlischen“ Ort des möglichen Friedens. Und auch keinen zufällig mit Leben besiedelten Gesteinsbrocken, der nur physikalischen Naturgesetzen folgt, sondern einen lebendigen Organismus. „Ich verbrachte 2011 ein halbes Jahr an Bord der Internationalen Raumstation ISS“, erzählt der amerikanische Discovery- und ISS-Astronaut Ron Garan. „In dieser Zeit nahm ich die Gewohnheit an, der Erde Gute Nacht zu sagen. Ich ging zur Cupola, der Aussichtsplattform am hinteren Ende der Station, und schaute zur Erde. Erst aus dieser Perspektive wird einem bewusst, dass die Erde ein lebender, atmender Organismus ist, der durch die dunklen Weiten des Universums rast.“ Wenigen der rund hundert Astronauten und Astronautinnen war es vergönnt, aus dem künstlichen Bauch des Raumschiffs herauszuschweben und im schützenden Raumanzug wie an einer Nabelschnur hängend frei über der Erde zu schweben: die Milchstraße im Rücken, die blaue Perle unter sich. Momente der Ehrfurcht und radikalen Selbstreflexion. Rusty Schweikart erlebte das 1968 in kostbaren fünf Minuten technischer Pause und erinnert sich 2018 in einem Gespräch zum 50. Jubiläum seines Flugs: „Kein Geräusch, komplette Stille, während ich mich mit 17.000 Meilen pro Stunde da draußen über die unglaublich schöne Erde bewegte. Es war meine Verantwortung in diesem Moment, all das in mich zu lassen: Was passiert hier? Was tue ich hier? Wer bin ich? In dem Moment ging es nicht um Antworten, nur darum, sich der Erfahrung völlig zu öffnen.“ Im Weltraum zu eindeutigen Mahnern Weil diese Erfahrung von Transzendenz nicht in der technischen Gebrauchsanweisung eines Raumschiffs verzeichnet ist, brauchte es eine Weile, bis sich die Raumfahrer darüber auszutauschen begannen und ein Wort dafür fanden: Overview-Effekt. „Man kriegt wirklich alles in einem Blick, und das verändert das Denken, sagte schon der deutsche Astronaut Ulrich Walter vor 20 Jahren. „Dieses Ändern des Denkens über die Erde führt zu einem Bewusstseinswandel, über sich anders nachzudenken: Welchen Sinn, welchen Stellenwert habe ich als Mensch auf der Erde?“ Wer dort oben nur Ganzheit wahrnimmt, dem erscheinen nationale Grenzen, ethnische, religiöse und territoriale Konflikte völlig absurd. Was der Blick auf die Erde den Raumfahrern emotional stattdessen vermittelt, ist der Eindruck von Grenzenlosigkeit, Ehrfurcht für das Leben und der tiefe Wunsch nach Frieden. Manche Astronauten sprechen von einem liebenden Mitgefühl zu allem, was da unten ist. Die überwältigende Schau auf die Erde ist in den meisten Fällen auch ökologisch nachhaltig. Viele Astronauten werden im Weltraum zu eindeutigen Mahnern, weil sie überblicken können, was passiert: „Wenn dieses Ausmaß an Zerstörung so weitergeht“, formulierte es z. B. der kanadische Raumfahrer Marc Garneau nach seiner Rückkehr aus dem All, „wird dieser Planet ein schwieriger Platz zum Überleben.“ Die rund hundert menschlichen Pioniere im All schauen eben nicht nur auf einen toten Gesteinsbrocken, sondern auf ein lebendiges Wesen. Sie machen sich Sorgen, sie lieben, was sie sehen. Ihr irdisches Weltbild wird gesprengt und erweitert. Teil des gesamten Universums Und diese enorme Weitung geht noch weiter: „Die Erde ist ein Teil des Weltalls. Das können Sie nicht zeigen, nur selber erleben“, sagte der deutsche Astronaut Reinhard Furrer im April 1988: „Und das ist das Erste, was Sie unvorbereitet trifft, weil Ihnen das niemand vorher hat vermitteln können.“ Erde – Welt – Weltall: Die menschliche Identität versucht, sich neu zu sortieren. Die „blaue Perle“ als Heimatplaneten unter sich und mit einer unmerklichen Drehung des Kopfes die funkelnden Sterne in Milliardenzahl in scheinbar greifbarer Nähe, viel heller und leuchtender als von der Erde aus. Die amerikanische ISS-Astronautin Mae Jemison hat dieses Potpourri von Empfindungen sich größer fühlen lassen: „Als ich dort oben war, ist mir etwas Wundervolles passiert. Ich hatte plötzlich das Gefühl, ein Teil des ganzen Universums zu sein. Wir sind ein Teil des Universums, genauso wie ein Haufen Sternenstaub oder ein Asteroid!“ „Vielleicht ist das ja auch die zentrale Erkenntnis, mit der im Grunde alle Kosmonauten und Astronauten zurückkehren: dass wir mit einem ‚Raumschiff Erde‘ im Weltraum unterwegs sind. Und zwar einem, aus dem keiner aussteigen kann“, formulierte es Ulf Merbold, 1983 als erster Deutscher im All und heute mit 82 ein Senior unter den Astronauten. Beginn eines Weltbildwandels Weihnachten vor 55 Jahren – da lasen die drei US-Raumfahrer aus der Umlaufbahn des Mondes dem fasziniert lauschenden Publikum auf der Erde aus der Genesis vor – eine „himmlische Botschaft“ der ganz besonderen Art. Illustriert vom Bild des Heimatplaneten kam aus dem knisterndem Äther das vertraute: „Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht.“ Es war der Beginn eines Weltbildwandels. Das Foto der blauen Weltkugel weckte eine stetig wachsende Welle des Engagements für den Heimatplaneten. Und es hat ganz nebenbei den Himmel vertrauter und die Erde heiliger gemacht. Gerettet hat es sie noch nicht, dieser Weg ist noch weit, wie auch die vom Blick auf die Erde verwandelten Raumfahrer eingestehen müssen: „Wenn ich so auf den Planeten runterschaue, dann denke ich, dass ich mich bei euch wohl leider entschuldigen muss“, sagte Alexander Gerst, der als deutscher Geophysiker und Astronaut über ein Jahr auf der internationalen Raumstation ISS verbrachte und sich von dort oben am 20. Dezember 2018 an die Jugend der Welt wandte: „Im Moment sieht es so aus, als ob meine Generation euch den Planeten nicht gerade im besten Zustand hinterlassen würde. Aber wer weiß, vielleicht lernen wir ja noch dazu.“ Geseko von Lüpke Über den Autor Dr. Geseko von Lüpke arbeitet als Journalist für Rundfunk und Printmedien und ist Autor zahlreicher Buchpublikationen mit den Schwerpunkten nachhaltige Zukunftsgestaltung, ökologische Ethik, ganzheitliche Wissenschaft und Spiritualität.

Der Artikel "Die blaue Perle" ist Teil der Audio-Ausgabe Januar 2024

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Wie das Bild unseres Heimatplaneten die Seele berührt

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