Ganzheitliche Fürsorge im Tageshospiz

Zu Hause in der vertrauten Umgebung zu sein, um zu sterben – so wünschen sich viele Menschen ihr Lebensende. Doch für nur wenige erfüllt sich dieser Wunsch. Um den Abschied in den eigenen vier Wänden künftig zunehmend zu ermöglichen, wurde neben den reinen Palliativstationen und stationären Hospizen das innovative Konzept der Tageshospize eingeführt, welches eine Kurzzeitbetreuung für unheilbare Kranke, die noch zu Hause leben, gewährleistet. Mit dieser Tagesbetreuung werden die starren Grenzen des Gesundheitssystems zwischen einer rein häuslichen und einer rein stationären Versorgung überwunden. Tageshospize begleiten die Schwerkranken, entlasten ihre Angehörigen und tragen dazu bei, die letzte Lebensphase mit so viel Lebensqualität wie möglich zu füllen. Auch helfen sie, die Themen Abschied, Sterben und Tod für alle Generationen (wieder) sichtbarer zu machen und in den natürlichen Lauf des Lebens zu integrieren. Die Kunst des Lebens und die Kunst des Sterbens sind eng miteinander verwoben. Immer noch verdrängen viele Menschen den Gedanken an den natürlichen Lauf des Lebens – daran, dass das Sterben eigentlich schon mit der Geburt beginnt. Daran, dass wir alle vom ersten Atemzug an auf ebendiesen einen Punkt zusteuern, die Erde wieder zu verlassen. Hier nur zu Gast zu sein, verbindet uns als Gemeinschaft. Erst das Bewusstsein und tiefere Verständnis für diesen Kreislauf lässt uns die Fülle des Lebens begreifen. Auch deshalb gilt es wieder zu lernen, das Sterben wie das Leben selbst einzubeziehen und in unseren Alltag zu integrieren, schreibt der Mediziner und Autor Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer in seinem Buch „Medizin verändern“: „Diese Haltung macht glücklich und erzeugt unentwegt Kraft für die Liebe zum Leben und zu geliebten Menschen .“ Sein eigener Bruder Willy war gerade einmal 44 Jahre alt, als er einem Lymphknotenkrebsleiden erlag. In einem der letzten Gespräche sagte Willy: „ Wenn ich weiterleben darf, lebe ich sehr gern weiter, aber wenn ich nicht weiterleben darf, ist es eben so.“ Willy sei überzeugt gewesen, dass nach dem Tod etwas Neues kommen werde, so Dietrich Grönemeyer. „Der Gedanke an unsere letzten Gespräche, die Klarheit, mit der er sprach, seine Ruhe und das bewusste Annehmen des Endes – das alles hat mich bis heute nicht losgelassen.“ Oft blenden wir den Tod aus, als ob es ihn nicht geben würde So schwer es auch sein mag: Ab einem gewissen Punkt im Verlauf einer schweren, unheilbaren und weit fortgeschrittenen Erkrankung gilt es anzuerkennen, dass es nur noch in eine Richtung geht – auf den Tod zu. Mitunter tun sich auch Ärzte und Ärztinnen damit schwer: Der Hauptfokus in Kliniken liegt auf lebenserhaltenden oder gar kurativen Behandlungszielen. Die hoch spezialisierte Technisierung der Medizin – der wir unbestritten vieles zu verdanken haben – hat sicherlich ihren Teil dazu beigetragen, dass wir den Tod oft bis zuletzt ausblenden, als ob es ihn nicht geben würde. Dabei wünschen sich laut repräsentativer Bevölkerungsumfragen über 80 %, die letzten Stunden in der eigenen Familie verbringen und zu Hause im vertrauten Umfeld sterben zu dürfen. Doch für nur 20 bis 25 % erfüllt sich dieser Wunsch. Angaben der Ricam Hospiz Stiftung Berlin zufolge verstirbt fast jeder zweite Mensch (46 %) in Kliniken, 31 % sterben in Alten- und Pflegeheimen. Neben der bereits existierenden stationären Betreuung von Schwerstkranken wurde das neue Modell der Tageshospize ins Leben gerufen, um zunehmend den Abschied in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen und das Thema des Todes wieder in die Gesellschaft zu integrieren. In unserem Alltagsleben beschäftigen wir uns sehr viel damit, wie wir noch mehr aus uns herausholen, die beste Version unserer selbst werden, wie wir uns optimieren können. Bei Themen wie Abschied, Sterben und Tod allerdings herrscht meist eine große Unsicherheit. Es fehlt uns Wissen und die Erfahrung im Umgang mit sterbenden Menschen. Christine Kempkes, Trauerbegleiterin und ehrenamtliche Sterbebegleiterin im ambulanten Hospiz Oberhausen, engagiert sich für eine leichtere Annäherung an diese Themen. „Ein Aspekt ist sicherlich, dass wir das Sterben in unserer Gesellschaft ausgelagert haben“, sagt sie, „ein Ereignis, das aber in jedem Fall und für jeden von uns eintritt. Wir haben verlernt, dem natürlichen Lauf des Lebens von der Geburt bis zum Tod zu vertrauen.“ Tatsächlich finden Anfang und Ende des Lebens größtenteils hinter verschlossenen Türen statt. Sich mit der eigenen Endlichkeit beschäftigen – und so mehr Selbstwirksamkeit erlernen Eine Verdrängung, zu der der bekannte US-amerikanische Psychotherapeut Irvin D. Yalom sagt: „Unser Gehirn verfügt zwar über die Fähigkeit, unsere Sterblichkeit zu reflektieren, aber nicht über die Fähigkeit, damit umgehen zu können.“ Dazu gehöre auch eine bewusste Sterbekultur, so Christine Kempkes: „unsere Toten beispielsweise aufzubahren und somit nicht nur sich selbst Zeit für einen Abschied in Ruhe zu nehmen, sondern auch Angehörigen und Freunden diese Möglichkeit zu schenken“. Eine Möglichkeit, die uns heute eher Angst macht. Sich quasi alles von Bestattungsunternehmen abnehmen zu lassen, zeugt von dem fehlenden Vertrauen in uns selbst, mit der vor uns liegenden Herausforderung aus eigener Kraft umgehen und diese meistern zu können – eine Ressource, die in der Psychologie als Selbstwirksamkeit bezeichnet wird. Im Grunde geht es also darum, dass wir es schaffen, uns damit zu befassen, dass wir endliche Wesen sind – „was eigentlich verrückt ist, weil es so selbstverständlich sein sollte“, bringt Christine Kempkes es auf den Punkt. In diesem Zusammenhang gilt es zu begreifen, dass Sterben und Trauer nicht etwa sprichwörtlich Angelegenheiten des Alters sind, sondern Menschen jedes Lebensalters betreffen können. Und dass es mit dem Bewusstsein für die eigene Endlichkeit oft erst möglich wird, „endlich“ bewusst zu leben – mit einer neuen Qualität. Die Lebenszeit zu nutzen für das, was wirklich wichtig ist. Höchstmögliche Lebensqualität in jeder Lebensphase Christoph Drolshagen ist Geschäftsführer der Hospize der Marienhaus-Gruppe und des Franziskus-Hospiz Hochdahl in Erkrath mit stationärem Hospiz, ambulanter Hospizarbeit und seit einem Jahr auch mit einem Tageshospiz. Er beobachtet, dass Menschen mit einer palliativen Diagnose, einer voranschreitenden lebensverkürzenden Erkrankung, immer später in die Hospizbegleitung kommen, „dass also im Grunde der richtige Moment, um diesen Raum der letzten Lebensphase auch mit schönen kleinen Dingen zu füllen, oft verpasst wird“. Und damit die Möglichkeit, frühzeitig ein Hilfsnetz aufzubauen. „Viele Menschen werden weiter onkologisch behandelt, obwohl der Weg eigentlich schon längst entschieden ist.“ Seit Jahren kämpft die Hospizbewegung darum, das Sterben in unseren Alltag zurückzuholen und in Würde zu ermöglichen: mit lindernder Pflege, Schmerztherapie, mit menschlicher Zuwendung und Begleitung für eine höchstmögliche Lebensqualität – wobei nicht nur Krebserkrankungen in der Hospiz- und Palliativversorgung eine Rolle spielen, sondern z. B. auch chronische Nieren-, Herz- oder Lungenerkrankungen in der Endphase sowie unheilbare neurologische Erkrankungen wie die amyotrophe Lateralsklerose (ALS), während deren Fortschreitens es zu einer Schwächung und letztlich zum Versagen der Atemmuskulatur kommt. Auf dem Weg zu einem umfassenden Gesamtkonzept Hierzulande stehen rund 1.500 ambulante Hospizdienste zur Verfügung, die Menschen in der letzten Lebensphase in deren Haushalt und Familien versorgen. Kommt diese ambulante Versorgung an ihre Grenzen, gibt es noch ca. 260 stationäre Hospize für Erwachsene sowie 19 für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, zudem ca. 340 Palliativstationen in Krankenhäusern. Was jedoch lange Zeit für ein umfassendes Gesamtkonzept fehlte, waren palliativmedizinische Tageskliniken und Tageshospize. „Ziel der Tageshospize ist es, Menschen, die durch ihre Krankheit oft in eine Isolation geraten sind, weil sie beispielsweise am normalen öffentlichen Leben nicht mehr teilnehmen können oder sich Bekannte und Freunde abgewandt haben, ein Stück Gemeinschaft zu ermöglichen“, so Christoph Drolshagen, ebenso wie die Selbstständigkeit, etwa über Behandlungsalternativen eigenständig zu entscheiden. 15 Tageshospize gibt es inzwischen in Deutschland, u. a. in Berlin, Hamburg, Nürnberg und Mannheim. Weitere 6 Häuser befinden sich in Bau oder Planung (Stand: Mai 2023). Um vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung künftig den Bedarf decken und Wartelisten vermeiden zu können, bedarf es zudem einheitlicher Standards hinsichtlich Finanzierung, Qualität und Personalbedarf. Eine Vision seit Generationen erfüllt sich Es war die Mutter der Hospizbewegung – die Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Saunders (1918–2005) –, die 1967 das erste moderne Hospiz St. Christopher’s Hospice in London gründete. Ihre Vision: Menschen auf eine ganzheitliche Weise in den Tod zu begleiten und während dieser Zeit ihre Lebensqualität zu verbessern – egal, wie lang oder kurz das Leben noch ist. In Sheffield in der englischen Grafschaft South Yorkshire entstand 1975 dann das erste Tageshospiz. Auch in anderen Ländern wie Irland und den USA bilden Tageshospize schon seit vielen Jahrzehnten einen wichtigen Versorgungspfeiler. Mitte der 1990er-Jahre verzeichnete Großbritannien bereits über 200 (!) teilstationäre Angebote – zu einer Zeit, in der es in Deutschland gerade einmal die ersten Bemühungen in diese Richtung gab, weiß Christoph Drolshagen. „Schon in den späten 1990er-Jahren haben wir die Lücke zwischen ambulanter und stationärer Versorgung gesehen. Und dass es dringend erforderlich ist, die Betroffenen, die im häuslichen Bereich leben, aus der Isolation herauszuholen und ihnen normale Kontakte zu ermöglichen.“ Durchgesetzt haben sich die Angebote seinerzeit nicht. Offensichtlich waren wir als Gesellschaft noch nicht so weit, den Abschied, das Sterben und den Tod in unser Leben zu lassen. Die persönlichen Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt Im Tageshospiz arbeiten Mitarbeitende aus Palliativpflege, Sozialarbeit und Hauswirtschaft zusammen bzw. werden situativ eingebunden. Die medizinische Versorgung erfolgt üblicherweise durch die Hausarztpraxis sowie Palliativmediziner/innen, die regelmäßig zur Visite kommen oder bei Bedarf ebenfalls hinzugezogen werden. Gemeinsam mit ehrenamtlichen Sterbegleiter/innen sowie Fachleuten beispielsweise der Logopädie, Ergotherapie oder Musiktherapie wird der Tag für die Gäste gestaltet. „Im Vordergrund steht: Was braucht der Gast – und von wem am nötigsten? Dieser Fragestellung müssen wir uns immer wieder neu stellen“, erklärt Christoph Drolshagen. Wer z. B. ohne Unterstützung zu Hause nicht mehr baden kann, profitiert von Spezial- und Pflegebädern in der Wellness-Badewanne – ein Angebot, das im Franziskus-Hospiz Hochdahl viele Gäste sehr gern in Anspruch nehmen. Andere haben den Wunsch, etwas vorgelesen zu bekommen. Oder nach gemeinsamen Spielen und Gartenarbeit. „Wieder andere Gäste möchten sich vielleicht zusammentun und mit unserer Kunsttherapeutin gemeinsam den Nachmittag gestalten.“ Aktivitäten, die positiv wahrgenommen werden, weil sie die Erfahrung ermöglichen, etwas zu erschaffen, und auch das gute Gefühl vermitteln, etwas zu hinterlassen. Schon der Begriff des „Gastes“ macht deutlich, dass sich dahinter ein anders Verständnis verbirgt, als wir es vom Patientenbegriff kennen. „Unterm Strich geht es darum, sich ganz dem hinzugeben, was die Gäste möchten. Darauf einzugehen und jeden nur möglichen Wunsch zu erfüllen – das ist die Power der Hospizbewegung aus meiner Sicht“, findet auch Christine Kempkes. Das Tageshospiz lebt von der Gemeinschaft und dem Gefühl, angenommen und akzeptiert zu sein – so wie man ist. Und aufgefangen zu werden, falls es einmal nötig sein sollte. Auch die Angehörigen sollen natürlich entlastet werden, damit sie Zeit für eigene Bedürfnisse haben, Dringendes erledigen oder einfach ausruhen können. „Ganz häufig höre ich aus betroffenen Familien, dass mit der Diagnose einer lebensverkürzenden Krankheit ein unglaublicher Druck eingezogen ist“, erzählt Christine Kempkes. „Da ist ein Mensch, der sich plötzlich verändert und anders wird, als man ihn lange kannte. Alle möchten jetzt ihr Bestes geben, sie möchten alles, wirklich alles richtig machen: die richtige Therapie, das richtige Krankenhaus, die richtigen Hilfsmittel. Und jeder Moment soll bitte noch so gut es geht genutzt werden.“ So entstehe fast schon eine Art Leistungsdruck, unter dem alle Beteiligten enorm litten und der in die völlige Überforderung führen könne. Ist der geliebte Mensch jedoch im Tageshospiz gut versorgt, gibt das den Angehörigen neue Sicherheit und damit Stabilität innerhalb der Familie – nur so kann die Pflege zu Hause längerfristig gewährleistet werden. Im Tageshospiz wird gemeinsam gelebt Ist einmal die Akzeptanz der Schwersterkrankten da, dass sie sich jetzt auf dem letzten Lebensabschnitt befinden, und kämpfen sie nicht mehr dagegen an, öffnen sich plötzlich Türen für schöne Erfahrungen, die verbleibende Zeit zu genießen und zu nutzen, vor allem für Gespräche, ist die Erfahrung von Christoph Drolshagen. „Viele Gäste entspannen sich, Inneres darf sich hier lösen. Und es ist möglich, die verbleibende Zeit zu gestalten und ihr einen eigenen Sinn zu geben.“ Wer als Gast hierherkommt, kommt nicht zum Sterben. Die Gäste kommen, um ein Stück Leichtigkeit und eine schöne Zeit zu erfahren, weil immer jemand da ist, um die Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen – sei es, noch einmal unter einem Kirschbaum zu liegen und dort Zeit zu verbringen. Das Tageshospiz kann aber auch zu dem Ort werden, an dem ein Mensch zum ersten Mal im Leben überhaupt lernt, sich selbst und die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, zu artikulieren und einzufordern. Und eine weitere Beobachtung hat Hospiz-Geschäftsführer Christoph Drolshagen gemacht, nämlich „dass sich bei vielen der Allgemeinzustand zunächst noch einmal stabilisiert, sobald sie den Tod akzeptiert haben“. Im Tageshospiz werden Menschen nach oft langen Phasen anstrengender Behandlungen und rein körperorientierter Therapien plötzlich mit ganzheitlicher Fürsorge betreut. „Das ist sicherlich auch ein Grund dafür, warum wir hier – wenn auch manchmal nur sehr kurz – durchaus viele schöne Dinge, sehr viel Lebendigkeit und Freude erleben.“ Miteinander reden: Tabuthemen gibt es nicht Für viele Sterbende ist es besonders wichtig, einen Gesprächspartner zu haben, dem sie sich anvertrauen können und der emotional nicht in den Kreis ihrer Zugehörigen – der neben den Angehörigen alle Menschen umfasst, die sehr nahestehen – eingebunden ist. Denn nicht der Tod sei es, der uns Angst macht, sondern eher die Gedanken über den Tod, schreibt Dipl.-Pädagoge Rüdiger Standhardt in seinem Buch „Die Kunst, den Tod ins Leben einzuladen“. Das große Bedürfnis, zu reden und sich über alles, was im tiefsten Inneren bewegt, auszutauschen, erfüllt sich im Tageshospiz unter Menschen in ähnlicher Situation auf Augenhöhe. Dadurch entstehen Synergien, in denen sehr tiefgehende Gespräche ohne Tabus möglich werden: über das Leben und das Sterben, den Tod und die Angst, die Hoffnung oder den Sinn des Lebens. Christoph Drolshagen: „Manche Gäste berichten, dass sie hier Themen besprechen können, die sie mit den Angehörigen zu Hause nicht besprechen können oder wollen.“ Konfrontiert mit schmerzvollen Emotionen möchten Angehörige häufig aufmuntern. Was dabei allerdings unbewusst passieren kann, ist, dass die Dimensionen der Gefühlswelt des anderen eher kleingeredet werden. „Ich glaube, dass wir niemals, wirklich niemals, genau wissen können, wie sich das Leben gerade für unser Gegenüber anfühlt“, appelliert Christine Kempkes. „Wir meinen aber oftmals schon nach wenigen Sätzen zu wissen, wovon der andere spricht.“ Lernen können wir, dass wirklich jede Emotion ihre ureigene Aufgabe hat und sein darf. „Lass sie deinem geliebten Menschen und hüte dich vor Urteilen, auch wenn du es selbst anders siehst oder einfach gerne trösten würdest.“ Bei Bedarf oder persönlichem Wunsch sind auch psychotherapeutische Gespräche möglich. Auch das Lachen gehört zum Sterben wie zum Leben Die meisten Menschen haben die Befürchtung, dass eine unerträgliche Schwere in ihr Leben tritt, sobald sie sich mit dem Tod und dem eigenen Sterben auseinandersetzen. „Genau das Gegenteil ist der Fall“, sagt Christine Kempkes. „Wir werden dadurch lebendiger, denn wenn wir uns mit unserer Sterblichkeit befasst haben, entsteht neuer Raum, der noch intensiv gelebt werden will.“ Und in dem viel gelacht wird. „Es gehört zu unserem Menschsein dazu, dass wir die ganze Bandbreite von Gefühlen bedingungslos spüren und auch zulassen können.“ Das Jammern, Klagen und Weinen, die Freude, das Feiern und das Lachen – das eine schließt das andere nicht aus. Wie passend ist da ein Zitat des irisch-britischen Literatur-Nobelpreisträgers George Bernard Shaw: „Das Leben hört nicht auf, lustig zu sein, wenn Menschen sterben. Genauso wenig wie es aufhört, ernst zu sein, wenn Menschen lachen.“ Das sollte uns Anlass sein, Humor und ein ausgelassenes Lachen zu wirklich jeder Zeit in unserem Leben willkommen zu heißen. Ein (Frühstücks-)Tisch der gelebten Gemeinschaft In der Regel haben Tageshospize an 2 bis 5 Tagen pro Woche mit festen Kernzeiten etwa 6 bis 8 Stunden geöffnet. Da sich abhängig vom jeweiligen Befinden die persönlichen Bedürfnisse der Gäste von Tag zu Tag ändern können, braucht es bei allen Tagesaktivitäten eine große Portion Flexibilität und Spontaneität. Eine starre Tagesstruktur ist da fehl am Platz. Einzige Ausnahme ist im Franziskus-Hospiz Hochdahl in Erkrath das gemeinsame Frühstück – ein besonderes Highlight, wie Christoph Drolshagen erzählt: „Wir haben festgestellt, dass für viele unserer Gäste gemeinsame Mahlzeiten ein ganz wichtiger Fixpunkt sind. Manche sind alleinstehend, haben mitunter über Monate nur alleine zu Hause gesessen. Hier wieder zusammen mit anderen Menschen eine gemeinsame Mahlzeit zu erleben, ist für sie einfach unbeschreiblich toll.“ Zu den Mahlzeiten kommen alle zusammen – Gäste, Besuchende, haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende. Das Frühstück bietet dabei einen Raum des entspannten Ankommens. „Wir schauen zum Start in den Tag gemeinsam mit den Gästen, wie heute ihre Situation ist und was individuell gewünscht ist.“ Ist das Wetter schön, geht es spontan hinaus, entweder auf einen Spaziergang oder man findet sich einfach im Garten zu Gesprächen zusammen. Gemeinsam mit der Köchin wird über das Mittagessen entschieden. „Backen macht vielen eine besondere Freude“, verrät der Hospiz-Geschäftsführer. „Und ich persönlich freue mich immer sehr, wenn ich die Kuchen kosten darf, die mit viel Liebe gebacken wurden.“ Das Geheimnis des Lebens berühren Das Tageshospiz ist ein offenes Angebot. Oft reicht es den Gästen, ein bis zwei Tage in der Woche dort zu sein. „Mehr schaffen die meisten auch nicht“, so Christoph Drolshagen. Für manche sei es recht anstrengend, überhaupt herzukommen. „Viele erleben dann aber auch, wie sehr sie von dem Angebot profitieren, und nehmen mindestens einen Tag pro Woche die Anstrengung gerne in Kauf.“ Eine Voraussetzung ist, noch transportfähig zu sein, um morgens gebracht und abends abgeholt werden zu können. Auch ein Fahrdienst oder Krankentransport kann organisiert werden. „Und die Gäste müssen in der Lage sein, an dem gemeinschaftlichen Leben hier in irgendeiner Form noch teilzunehmen.“ Sterbebegleiterin Christine Kempkes hat die Erfahrung gemacht, dass die letzte Lebensphase eine ganz friedliche Phase sein kann, wenn in jeder Faser des Körpers eine Akzeptanz stattfindet, dass das jetzt die letzte Wegstrecke ist – und wenn dieser Weg liebevoll begleitet wird. „Das ist etwas, das ich als sehr erfüllend empfinde, dass da eine Ruhe und innere Einkehr stattfindet, oft nach einem langen Kampf.“ Jeden von uns kann es gleichermaßen erfüllen, sich mit Neugierde und einer Portion Forschergeist allen Fragen rund um das Sterben, den Abschied und den Tod zuzuwenden, und diese Auseinandersetzung als Chance zu begreifen – für mehr Dankbarkeit und Zuversicht, für Selbstliebe, Liebe und Aussöhnung. Verlängern können wir das Leben nicht, aber wir können die Intensität unseres Lebens vertiefen. Ein guter erster Schritt kann sein, sich überhaupt auf diesen Prozess einzulassen. Pepe Peschel Über die Autorin Pepe Peschel ist Moderatorin und Medienkommunikatorin im Bereich Medizin. Die Gesundheitspädagogin hat zahlreiche Gesundheitsratgeberbücher veröffentlicht. Literatur • Rüdiger Standhardt: Die Kunst, den Tod ins Leben einzuladen. Denkanstöße für einen achtsamen Umgang mit Sterben, Tod und Abschied. Klett-Cotta Verlag, 2023. • Christine Kempkes: Abschied gestalten. Die letzte Lebensstrecke bewusst erleben. Was am Ende wirklich zählt: Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige, um sich achtsam auf den Tod vorzubereiten. Humboldt Verlag, 2023. • Dietrich Grönemeyer: Medizin verändern. Heilung braucht Zuwendung, Vertrauen und Mut zu neuen Wegen. Ludwig Verlag, 2022. • Johann Ch. Student, Albert Mühlum und Ute Student: Soziale Arbeit in Hospiz und Palliative Care. Ernst Reinhardt Verlag, 2020. • Patrick Schuchter, Michaela Fink, Reimer Gronemeyer und Andreas Heller: Die Kunst der Begleitung. Hospiz Verlag, 2018. • Sabine Pleschberger und Christof S. Eisl: Tageshospize – Orte der Gastfreundschaft. Hospiz Verlag, 2016. Weiterführende Links • Deutscher Hospiz- und Palliativ Verband e. V.: www.dhpv.de • Bohana-Netzwerk, Information, Inspiration und Unterstützung bei Bestattung, Trauer und Vorbereitung: www.bohana.de Auf einen Blick • Palliativstationen sind innerhalb eines Krankenhauses auf die stationäre Behandlung und Betreuung lebensbegrenzend erkrankter Menschen spezialisiert. • Ambulante Palliativdienste werden professionell durch sogenannte Palliative-Care-Teams erbracht mit dem Ziel, die Lebensqualität und Selbstbestimmung von Menschen mit einer fortgeschrittenen lebensbegrenzenden Erkrankung so weit wie möglich zu erhalten und ein würdiges Leben zu Hause, in stationären Pflegeeinrichtungen oder Hospizen zu ermöglichen. • Stationäre Hospize nehmen als eigenständige wohnliche Einrichtungen Menschen in ihrer letzten Lebensphase auf, wenn die Behandlung in einem Krankenhaus nicht (mehr) notwendig und die Betreuung zu Hause oder in einer Pflegeeinrichtung nicht möglich ist. • Ambulante Hospizdienste werden in der Regel ehrenamtlich von Hospizgruppen oder Hospizvereinen erbracht und unterstützen Schwersterkrankte und deren Angehörige in Zeiten der Erkrankung, des Abschieds und der Trauer. • Tageshospize bieten eigenständig oder an stationäre Hospize angebunden Kurzzeitbetreuung für unheilbar Erkrankte, die noch zu Hause leben. Als Einstieg in die Hospiz- und Palliativbetreuung können sie auch dabei helfen, oft vorhandene Hemmschwellen abzubauen. Welche Kosten entstehen? Es entstehen keine Kosten für den Besuch im Tageshospiz. Das teilstationäre Angebot finanziert sich über Tagessätze, die wie im stationären Hospizbereich zu 95 % über die Kranken- und Pflegekassen und zu 5 % über Spenden gedeckt werden. Selbst bezahlt werden müssen lediglich zusätzliche Leistungen wie z. B. eine mobile Fußpflege.

Der Artikel "Ganzheitliche Fürsorge im Tageshospiz" ist Teil der Audio-Ausgabe November 2023

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