Ich spüre, also bin ich

Der Mensch verfügt über fünf Sinne, die ihm helfen, die Welt und sich selbst als Teil darin wahrzunehmen. Wir hören, sehen, riechen, schmecken und fühlen. Das Fehlen einer der ersten vier Sinne macht uns nicht lebensunfähig. Auch blinde oder taub geborene Menschen finden ihren Weg durch die Welt. Ohne Tastsinn hingegen kann der Mensch sich weder gesund entwickeln noch wachsen. Dass die Entdeckung von Rezeptoren für Temperatur und Berührung 2021 mit dem Medizin-Nobelpreis gewürdigt wurde, zeigt, welcher Stellenwert dem Tastsinnessystem mittlerweile vonseiten der Forschung zuerkannt wird, nachdem es lange verkannt und minderbewertet wurde. Der Neurowissenschaftler Dr. Dr. Damir del Monte ergründet die mannigfaltigen Einflüsse des Tastsinns auf das menschliche Wohlbefinden, auf Gesundheit und Glück. Antje Maly-Samiralow sprach für NATUR & HEILEN mit dem engagierten Wissenschaftler. Interview mit dem Neurowissenschaftler Dr. Dr. Damir del Monte Leben heißt Berührung: Wir reichen uns die Hände, legen einander wohlwollend die Hand auf die Schulter und umarmen uns zum Trost, aus Liebe und Zuneigung. Im Rahmen der nonverbalen Kommunikation berühren wir uns unentwegt, häufig unbewusst. Doch Berührungen sind mehr als eine Grußformel oder Geste. Sie ermöglichen und fördern das Leben. Die Tatsache, dass sich das Tastsinnessystem beim Embryo zuallererst ausbildet, und zwar lange, bevor sich die Anlagen für Hören oder Sehen ausprägen, ist ein erster Hinweis auf die existenzielle Bedeutung dieses Systems, das alle den Tastsinn betreffenden Wahrnehmungen wie Druck oder Vibration, aber auch Temperatur und Schmerz sowie ihre Weiterverarbeitung im Gehirn umfasst. Doch Berührungen legen nicht nur den Grundstein für eine gesunde menschliche Entwicklung, sie sind auch ein Garant für körperliche und seelische Gesundheit und darüber hinaus für ein langes Leben. Dr. del Monte, lassen Sie uns doch ganz vorn anfangen, am Beginn des Lebens: Inwiefern beeinflusst die Etablierung des embryonalen Tastsinns die menschliche Entwicklung? Etwa ab der 7. Schwangerschaftswoche bildet sich das Tastsinnessystem aus. Zeitlich fällt das mit dem Erscheinen der ersten, zarten Großhirnanlagen zusammen. Nachdem wir wissen, dass das gustatorische und das olfaktorische System, die für Schmecken und Riechen zuständig sind, erst ganze 10 Wochen später zu entstehen beginnen und die Anlagen für Hören und Sehen mehrere weitere Wochen für ihr Erscheinen benötigen, zählen die taktilen Reize, Tast- und Berührungswahrnehmungen zu den frühesten Informationen, die im menschlichen Gehirn verarbeitet werden können. Und weil das Tastsinnessystem das erste ausgereifte Sinnessystem ist, das Informationen liefern kann, ist es maßgeblich an Aufbau und Strukturierung der körperlichen Repräsentationen im Gehirn und somit auch des Gehirns insgesamt beteiligt. Jede Information, die im Gehirn ankommt und dort zugeordnet und interpretiert wird, hilft diesem hochkomplexen Organ, seine Strukturen aufzubauen. Welche Art von Informationen liefert das Tastsinnessystem und wo genau werden sie generiert? Der Embryo, der erst mit der Entwicklung der inneren Organe in der 8. Schwangerschaftswoche als Fötus bezeichnet wird, ist im Uterus von Fruchtwasser umgeben. Das ist sein natürliches Habitat, seine vorläufige Umwelt. Wir wissen, dass der Embryo ab der 7. Schwangerschaftswoche auf Berührungsreize an den Lippen mit einem Zurückweichen reagiert. Mit anderen Worten: Die Wahrnehmung von Berührung an seiner Außenhaut – in dem Fall den Lippen – wird nicht nur im sensiblen Teil des Gehirns registriert. Die Information wird verarbeitet und löst eine motorische Reaktion aus. Das heißt, hier interagieren bereits zwei Systeme: das Tastsinnessystem und das Bewegungssystem. Über die Kontaktsensibilität an den Lippen werden erste Umweltreize registriert und entsprechende Reaktionen ausgelöst. So erfährt der in Entwicklung befindliche Mensch schon sehr früh seine Umgebung, aber auch sich selbst. Die Kontaktsensibilität der Lippen weitet sich dann auf weitere Körperzonen aus, bis schließlich ab der 14. Schwangerschaftswoche alle Körperregionen in der Lage sind, Reize wahrzunehmen. Der Psychologe Martin Grunwald, der Pionier der Haptikforschung in Deutschland, hat diese Fähigkeiten als „Kontaktgesetz“ etabliert. Jedes Lebewesen vom Einzeller bis zum Menschen verfügt über eine Kontaktsensibilität und Kontaktreaktibilität. Folgt diese frühe Etablierung des Tastsinns einem Entwicklungsprogramm, und wenn ja, welchem? Ja, die fetale Entwicklung folgt einem Plan, bei dem alles aufeinander aufbaut und letztlich dem Ziel geschuldet ist, einen lebensfähigen Menschen hervorzubringen. Auch das zu Unrecht als schlechte Angewohnheit kritisierte Daumenlutschen folgt diesem Programm. Wir wissen, dass ein Fötus bereits in der 15. Schwangerschaftswoche den Daumen zum Mund führt. Dabei übt sich der Fötus im Saugen, was ihm nach der Geburt das Überleben sichert. Egal, ob ein Säugling an der Brust oder mit der Flasche gestillt wird: Der kleine Mensch muss nun mal kräftig saugen, um satt zu werden. Aber die Fähigkeit zur Berührung sichert ihm nicht nur das rein physische Leben. Es legt auch das Fundament für eine stabile emotionale und psychosoziale Entwicklung, die mindestens ebenso lebensnotwendig sind. Beruhigende und stressregulierende Selbstberührung Sie sprechen von den viel gepriesenen Streicheleinheiten? Genau, streicheln kann man gar nicht genug. Aber gestreichelt wird der Mensch ja erst, nachdem er den Mutterleib verlassen hat. Lange bevor ein Mensch das Licht der Welt erblickt, streichelt er sich selbst. Der Fötus berührt sich vor allem im Gesicht. Das tut er u. a., um sich zu beruhigen. Wir wissen, dass die Selbstberührungsrate im Gesicht mit dem Stresslevel der Mutter zunimmt. Es handelt sich um eine erste Stressbewältigungsstrategie, die allerdings unbewusst abläuft und auf die wir ein Leben lang zurückgreifen. Was meinen Sie wohl, wie oft Sie sich im Laufe eines Tages im Gesicht anfassen? Ganze 400- bis 800-mal! Müssen wir uns wirklich so oft beruhigen? Vermutlich. Wir unterliegen ja permanenten Einflüssen, die wir gar nicht bewusst registrieren, etwa bedrohlich wirkenden Geräuschen, unangenehmen Gerüchen, schrecklichen Bildern im allabendlichen Krimi, oder denken Sie nur an die Nachrichten, mit denen wir ständig konfrontiert werden. Vor allem in stressbelasteten Situationen, etwa während einer Prüfung, kann man solche Gesichtsberührungen gehäuft sehen, was ein Hinweis auf die beruhigende Wirkung solcher Streicheleinheiten ist. Um solche Annahmen zu bestätigen, hat Martin Grunwald in einer Laborstudie die Hirnströme von Menschen gemessen, die durch enervierende Geräusche gewissermaßen beim Denken gestört wurden, und aufgezeigt, dass sich die Hirnstromaktivität in jenen Frequenzbereichen, die wir für ein funktionierendes Arbeitsgedächtnis brauchen, nach Selbstberührung im Gesicht normalisiert hat, während sie vorab durch besagte akustische Störung herabgesetzt war. Gleiches gilt für die mit Emotionen assoziierten Frequenzen. Die Testpersonen wurden durch unangenehme Geräusche gestört, was offenkundig negative Emotionen hervorrief. Auch hier wurde eine Normalisierung der Frequenz nach der Selbstberührung im Gesicht gemessen. Diese Selbstberührung ist eine Art Selbstregulation, um allfällige Störungen auszugleichen. Die Neuroanatomie der sanften Berührung Wenn wir gestreichelt oder umarmt werden, empfinden wir das doch auch als beruhigend. Die beruhigende und stressregulierende Wirkung von Berührungen wird durch ein fein austariertes neurophysiologisches Netzwerk gewährleistet. Das komplexe Netzwerk der sensiblen Nerven zu beleuchten, würde hier den Rahmen sprengen, daher vereinfacht erklärt: Die Fortsätze sensibler Nerven ziehen zur Haut, und ihre Enden verzweigen sich dort. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Verzweigungen enden als sogenannte freie Nervenendigungen in der Haut – sie bestehen nur aus A-Delta- und C-Fasern. Oder sie bilden mit anderen nicht neuronalen Zellen besondere Mechanosensoren, die sich aus etwas dickeren A-Beta-Fasern zusammensetzen. Während die A-Delta- und C-Fasern in erster Linie Schmerz-, Juck- und Temperaturreize übermitteln, führt die Reizung der Mechanosensoren der A-Beta-Fasern ausschließlich zu Berührungs- und Tastempfindungen. Die A-Beta-Fasern gelten somit als die „Berührungsmelder“ des menschlichen Körpers. Wir haben aber auch bei den C-Fasern eine spezielle Variante, die auf Berührung reagiert: die sogenannten C-taktilen Fasern oder einfach CT-Fasern. Diese Fasern, die erst in den 1980er-Jahren entdeckt und zunächst zurückhaltend, aber mittlerweile intensiv beforscht werden, sind das Herzstück des sogenannten Affective-Touch-Systems, des emotionalen Berührungssystems. Tests haben gezeigt, dass diese CT-Fasern bei einer Berührungsgeschwindigkeit von 1 bis 10 cm pro Sekunde unter Ausübung von sanftem Druck und einer Temperatur von 32 °C – was der Hautoberfläche entspricht – optimal arbeiten. Mit anderen Worten: Die CT-Fasern feuern also am stärksten, nicht wenn man einfach berührt wird, sondern wenn man auf eine bestimmte Art und Weise gestreichelt wird: Sie werden durch zarte Streichelbewegungen, sanfte Massagen oder angenehmes Kraulen am stärksten aktiviert. Haben wir zu viel Druck oder bewegen wir sehr schnell unsere Hand auf der Haut, feuern diese Fasern sehr viel weniger stark. Und wie reagiert es? Mit einem Chemiecocktail, den kein Medikament dieser Welt in sich vereint, und der einfach nur wohltut. Die CT-Fasern enden direkt in der Insula, einem Teil des Gehirns, das für unser körperliches Selbsterleben zuständig ist. Diese stößt wiederum im Hypothalamus die Bildung von Oxytocin an. Das berühmte Kuschelhormon … Genau. Wenn Oxytocin freigesetzt wird, erleben wir Vertrautheit und Sicherheit. Oxytocin ist auch ein Stressinhibitor, also ein für unsere psychische Gesundheit sehr wichtiges Hormon und Neurotransmitter. Aber nicht nur das: Auch der Parasympathikus, der entscheidend für Entspannung, Verdauung, Regeneration und Wachstum ist und darüber hinaus entzündungshemmende Prozesse aktiviert, wird durch sanfte Berührung stimuliert. Und es kommt noch besser: Die körpereigene Schmerzapotheke, das Opiatsystem, wird ebenfalls stimuliert und als Krönung einer Streicheleinheit das serotonerge System, das uns mit Serotonin, also unserem Glückshormon, belohnt. Hier wird gewissermaßen die physiologische Basis für Wohlbehagen, Beruhigung und Stressregulation geschaffen. Mittlerweile konnten sogar stimulierende Effekte bis in das Immunsystem hinein nachgewiesen werden. Man geht davon aus, dass kein anderes Sinnessystem eine so ausgeprägte affektive Reaktion hervorrufen kann. All das zeigt, wie wichtig dieses System der körperlichen Berührung für unser Selbstempfinden, unser Wohlbehagen, für die Fähigkeit, uns zu spüren und uns zu regulieren, ist. Das haben wir in unserer Haut! Streicheleinheiten als Therapeutikum Demzufolge ist Streicheln ein therapeutisches Multitalent. Das könnte man so sagen. Es gibt bereits Rufe nach Etablierung einer „Berührungsmedizin“, was ich für absolut angemessen und längst überfällig halte. Wir verfügen ja bereits über gute Daten über die positiven Effekte, die von Berührungen ausgehen. Aus der Neonatologie, der Versorgung von Frühgeborenen, wissen wir, dass Frühchen, die nicht ausschließlich im Inkubator heranwachsen, sondern auch reichlich Hautkontakt erfahren, eine beschleunigte und verbesserte Hirnreifung aufweisen, schneller an Gewicht zunehmen und sich insgesamt besser entwickeln. Das gilt selbstverständlich auch für zeitgerecht geborene Kinder. Es ist mittlerweile Gott sei Dank Allgemeingut, dass ein früher Hautkontakt mit der Mutter die physische und psychosoziale Entwicklung des Kindes positiv stimuliert. Das kann man übrigens auch im Tierreich beobachten: Katzen schlecken ihre Jungen sofort nach dem Wurf ab und haben sie ständig um sich. Ist der Mangel an so frühen Hautkontakten eine Erklärung dafür, dass emotional vernachlässigte Kinder, die keine mütterlichen Liebkosungen erfahren, früh versterben? Davon muss man ausgehen. Es gibt da ein trauriges Experiment aus der Geschichte, von dem man sich nicht ganz sicher ist, ob es stimmt, aber ich führe es trotzdem an, weil es das Problem gut verdeutlicht. Kaiser Friedrich II., der im 13. Jahrhundert römischer Kaiser und deutscher König war, wird ein Versuch zugeschrieben, mit dem er ergründen wollte, welche Sprache Kinder natürlicherweise sprechen, wenn sie überhaupt keine sprachliche und sonstige Zuwendung erfahren. Er ließ neugeborene Kinder ihren Müttern wegnehmen und an Ammen übergeben. Sie sollten den Kindern Milch geben, sie baden, aber sie keinesfalls liebkosen oder mit ihnen sprechen. Das Experiment misslang insofern, als alle Kinder starben. Dieses als Waisenkind-Experiment berühmt gewordene Ereignis wird gern als Beispiel angeführt, um aufzuzeigen, dass Kinder ohne zärtliche Zuwendung nicht überleben können. Zu ähnlich bitterer Berühmtheit sind rumänische Waisenhäuser gelangt. Dort fand man nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Kinder, die keinerlei Zuwendung erfahren hatten. Die Sterbelisten dieser Einrichtungen gaben ein beredtes Zeugnis der grausamen Verwahrlosung. Nachuntersuchungen von Kindern aus besagten Waisenhäusern, die später in Pflegefamilien umsorgt wurden, dokumentierten zudem, dass es ein Zeitfenster von etwa zwei Jahren gibt, in dem Kinder Hautkontakt und Zuwendung brauchen. Bleibt das aus, sind die Schäden irreparabel. Diese Kinder entwickeln sich dann nicht richtig. Sie sind oft auffallend klein und verfügen nicht über die kognitiven Fähigkeiten, die sie hätten erwerben können, wenn sie das Maß an Liebkosungen und Streicheleinheiten bekommen hätten, das ein Mensch nun mal braucht, um wachsen und gedeihen zu können. Richtig deutlich werden die Folgen von Vernachlässigung bei Säugetieren. Werden Jungtiere nach der Geburt von der Mutter getrennt, erfahren sie das als Stress, der wiederum die körperlichen und neuronalen Wachstumsprozesse beeinträchtigt. Der amerikanische Psychologe Harry Harlow hat schon Ende der 1950er-Jahre in Experimenten mit Rhesusaffen, bei denen die Jungen von ihren Müttern getrennt und ihre Nahrung von einer Art Affenpuppe bezogen, zeigen können, dass das Bedürfnis nach Nähe wichtiger ist als das Bedürfnis, den Hunger zu stillen. Aus seinen Arbeiten wissen wir auch, dass Rhesusaffen körperlich und psychisch verkümmern, wenn man sie isoliert aufzieht. Kopplung der Entwicklung an den direkten Körperkontakt Wenn Nähe und Körperkontakt nicht nur für Menschen, sondern auch für Säugetiere so existenziell sind, könnte dahinter eine evolutionsbiologische Notwendigkeit stecken? Martin Grunwald hat das in seinem Buch „Homo Hapticus“ so treffend zusammengefasst, dass ich das gern zitieren möchte: „Die direkte Kopplung biologischer Wachstumsprozesse an die physische Reizung des Körpers folgt dem Naturgesetz, dass die Entwicklung von Leben nur dann biologisch sinnvoll ist, wenn artgleiche Organismen in direkter Nähe vorhanden sind, denn keinem Säugetier würde es unter natürlichen Bedingungen gelingen, ohne direkten Kontakt zu Artgenossen – insbesondere der Mutter – lebensfähig zu bleiben und sich zu entwickeln. Somit signalisiert der körperliche Kontakt zu einem anderen Menschen, der ja unzweifelhaft dessen reale Existenz vermittelt, dem Säugling auf biologischer Ebene die Sinnhaftigkeit weiterer Entwicklungs- und Wachstumsprozesse.“ Besser kann man diese evolutionsbiologischen Zusammenhänge nicht auf den Punkt bringen. Berührung als therapeutische Maßnahme bei verschiedenen Krankheiten Sie sprachen vorhin vom günstigen Einfluss, den Berührungen auf die Entwicklung von Frühgeborenen nehmen. Gibt es weitere Medizinsparten, für die ähnliche therapeutische Effekte vorliegen? Das erstreckt sich mittlerweile über weite Bereiche. Klinische Studien legen den Nutzen therapeutischer Berührungstechniken für verschiedene Krankheitsbilder dar, etwa in der Onkologie oder der Kardiologie. Da sprechen wir von blutdrucksenkenden Effekten oder der Steigerung der Herzratenvariabilität. Aus der Chirurgie gibt es Daten zur Verringerung von Angst und Schmerzen und der reduzierten Notwendigkeit zur Verabreichung von Beruhigungsmitteln. Aber auch in der Psychiatrie profitiert man von Berührungskonzepten, konkret in der Behandlung von Depressionen und Angststörungen. Wir haben ja vorhin über die Oxytocin- und Serotonin-stimulierende Wirkung von Streicheleinheiten gesprochen, die den Blutdruck senken, Angst reduzieren, beruhigen, Stresshormone abbauen und entspannen, woran übrigens auch der Parasympathikus beteiligt ist, der ja ebenfalls durch Berührung aktiviert wird. Nachdem Depressionen und Angststörungen dramatisch zugenommen haben, wären Streicheleinheiten möglicherweise ein probates Mittel zur Eigentherapie? Unbedingt. Das kann ich nur empfehlen. In Sachen Berührung hat ja jeder seine Vorlieben. Der eine mag gern am Kopf gekrault werden, die andere genießt eine Massage der Füße, und wer besonders angespannt ist, weiß eine Nackenmassage zu schätzen. Das muss nicht lange sein, aber halbwegs regelmäßig. Mit der Zeit wird man süchtig danach. Vergessen wir nicht, dass Oxytocin auch die Bindung zwischen den sich berührenden Personen fördert. Das gilt ganz am Anfang des Lebens für die stillende Mutter und das an ihrer Brust saugende Baby. Oxytocin fördert ja nicht nur den Milchfluss, es sorgt auch dafür, dass Mutter und Kind eine sprichwörtlich innige Beziehung eingehen, die Väter, die nun mal nicht stillen können, in dieser Intensität nie werden aufbauen können. Diese durch Oxytocin induzierte Bindung erfahren wir auch als Erwachsene, etwa beim Sex. Auch bei diesem körperlich höchst innigen Kontakt kommt es zur Ausschüttung des Hormons Oxytocin, und das macht nicht nur glücklich und entspannt, es fördert auch die Beziehung der Sexualpartner. Nicht umsonst wird so mancher Zwist durch Sex, aber auch durch andere Formen körperlicher Nähe beigelegt. Deshalb ist das Geben und Nehmen von Streicheleinheiten nicht nur gesundheitsförderlich, es stärkt auch die Partnerschaft und kittet so manchen Bruch. Sich selbst etwas Gutes tun Aber längst nicht jeder lebt in Familie oder Partnerschaft. Viele Menschen leben allein, vor allem im Alter. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass vor allem allein lebende ältere Menschen Massagen schätzen und sich gern beim Friseur die Haare machen, also am Kopf berühren lassen, zumal man heutzutage bei vielen Friseuren eine Gratis-Kopf-und-Nacken-Massage erhält. Aber man kann sich durchaus selbst etwas Gutes tun, indem man sich beispielsweise nach dem Bad ausgiebig eincremt und die Creme ganz langsam einmassiert. Aus der ayurvedischen Tradition ist die schöne Technik der Ölmassage bekannt, und die kann sich jeder selbst angedeihen lassen. Ganz einfach geht das mit dem Gesicht, an den Händen und Armen sowie den Füßen, die ohnehin immer zu kurz kommen. Ich erwähnte ja vorhin, dass die Reizleitung der CT-Fasern bei einer Streichelgeschwindigkeit von 1 bis 10 cm pro Sekunde ideal ist. Der Gipfel der Reizübertragung wird allerdings bei 3 bis 5 cm/s erreicht. Das kann man sich einfach ausrechnen, in dem man auf den Sekundenzeiger schaut, während man über den Unterarm oder die Fußsohlen streicht. Dabei wird man vermutlich feststellen, dass dieses Tempo in etwa dem entspricht, mit dem man selbst unzählige Male gestreichelt wurde oder gestreichelt hat. Und es gibt durchaus Menschen, die – ohne sich dessen bewusst zu sein – sich intuitiv selbst streicheln, etwa beim Fernsehen oder beim Lesen. Probieren Sie es einfach mal aus. Vielleicht merken Sie nach einer Zeit des regelmäßigen Streichelns, dass kleine Entzündungen abklingen oder bestimmte Schmerzherde zur Ruhe kommen. Denn auch aus der Schmerztherapie sind Effekte gezielter Berührungstechniken dokumentiert. Das trifft sowohl auf die Behandlung von Spannungskopfschmerzen, aber auch chronischer Schmerzerkrankungen wie der Fibromyalgie oder der Migräne zu. Berührung in der Pflege alter Menschen lebensnotwendig Würden Sie die Entwicklungen der jüngsten Zeit, die von einer noch nie erlebten Kontaktlosigkeit bei gleichzeitig ausufernden Hygienestandards gekennzeichnet waren, als Gesundheitsrisiko betrachten? Wir wissen, dass wir Berührung, körperliche Nähe, Kuscheln und Streicheln brauchen, um gesund zu bleiben. Was man Menschen antut, wenn man ihnen Nähe und Körperkontakt versagt, sie nur mehr mit Handschuhen anfasst, wenn ihnen der verbindende Händedruck verwehrt wird, hat man in den Alten- und Pflegeheimen gesehen, wo Menschen buchstäblich eingegangen sind wie Primeln, die man nicht gießt. Dabei ist Berührung gerade in der Pflege alter, vor allem an Demenz erkrankter Menschen so wichtig. Hautkontakt stellt ja eine Verbindung zum anderen her, eine physische und emotionale Verbindung. Durch Berührung spürt man den anderen, aber auch sich selbst. Für Menschen, die aus der Welt driften, weil ihre kognitiven Fähigkeiten abnehmen, ist das auch eine Verbindungsbrücke zur Welt. Wenn alle anderen Sinne schwinden, Menschen im hohen Alter schlechter hören oder sehen, dann ist das Berührtwerden eine kostbare Sinneserfahrung, ein Stimulus, der entspannt und beruhigt. So wie wir im frühesten Stadium unserer Menschwerdung des Hautkontakts bedürfen, um uns gesund entwickeln zu können, so sehr bedürfen wir der Berührung, wenn das Leben dem Ende zugeht. Die Betreuung und Pflege alter Menschen folgen ähnlichen Prämissen wie die Pflege Neugeborener. Berührung ist Leben. Ich kann nur hoffen, dass die Distanz, die zwischen den Menschen Einzug gehalten hat, aufgebrochen wird und wir wieder zu dem zurückkehren, was biologisch notwendig und sinnvoll ist: herzliche und innige Berührung. Dr. del Monte, herzlichen Dank für das Gespräch! Antje Maly-Samiralow Über die Interviewerin Antje Maly-Samiralow ist Journalistin mit Schwerpunkt auf Medizin- und Gesundheitsthemen, Autorin und Moderatorin. Link • Encephalon – Video zur „Neuroanatomie der Berührung“: Literatur • Martin Grunwald: Homo Hapticus – Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. Droemer Verlag, 2017. • Rebecca Böhme: Human Touch – Warum körperliche Nähe so wichtig ist. C. H. Beck Verlag, 2019.

Der Artikel "Ich spüre, also bin ich" ist Teil der Audio-Ausgabe Februar 2023

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Warum wir ohne Berührung nicht leben können

Editorial Februar 2023 · Verbundenheit · Ich spüre, also bin ich · Der Klang in uns · Halswirbelsäulen-Syndrom · Nattokinase · Stimulanzien aus der Natur · Februar 2023 – Warum lassen wir uns verrückt machen? · PLUS: Die komplette Ausgabe in einem Track

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