Pferdegestützte therapeutische Begleitung

Es gibt gute Gründe, weshalb Pferde seit vielen Jahrhunderten den Weg des Menschen als treue Gefährten begleiten und mittlerweile auch gezielt in der Vorsorge und Behandlung von physischen und psychischen Krankheiten eingesetzt werden. Pferde haben die Fähigkeit, uns Menschen ihr reguliertes Nervensystem zu „leihen“ und uns in puncto Orientierung, Geborgenheit, Öffnung und Wachstum zu unterstützen. Pferde lassen uns dabei so viel Zeit, wie wir für unsere Prozesse benötigen, ohne uns zu drängen. Und viele Patienten sind dankbar für die wohlwollenden und gefahrlosen Erfahrungen in einem geschützten Rahmen mit diesen wunderbaren Lebewesen. Seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden gibt es mystische Legenden über Pferde und ihre Möglichkeiten, Menschen darin zu unterstützen, in andere Bewusstseins- und Körperzustände zu gelangen. In Träumen und im Weisheitsschatz vieler Völker taucht das Pferd immer wieder als ein universelles Symbol für die Verwurzelung des Menschen im instinktiven und intuitiven Bereich seines Seins auf. Quellen deuten darauf hin, dass Pferde bereits seit der Zeit der frühen Griechen als heilend für den Menschen angesehen werden. Man nimmt an, dass Pferde um 4.000 v. Chr. in den eurasischen Steppen der Ukraine domestiziert und schon bald als Werkzeuge der Zerstörung und Kriegsführung sowie als Boten des Göttlichen angesehen wurden, die dazu fähig sind, Menschen in Kontakt mit der feinstofflichen und geistigen Welt zu bringen. Die Rolle der Pferde als Botschafter zwischen der manifesten und der transzendenten Welt setzt sich bis heute fort, da viele Menschen Frieden und Trost in ihrer kraftvollen Präsenz finden und die ruhige Zeit, die sie mit Pferden verbringen, dazu nutzen, um Antworten auf die Herausforderungen ihres Lebens zu suchen, um zu beten oder ihre verwundeten Seelen zu heilen. Einsatz von Pferden in der Psychotherapie Menschen erleben Pferde seit jeher als treue Gefährten und einfühlsame Helfer auf einem manchmal herausfordernden Lebensweg. Denn die Tiere haben ein unfehlbares Gespür für Echtheit und Wahrhaftigkeit. Ihr ehrliches und vorbehaltloses Feedback erlaubt uns tiefgreifende Einsichten, wo wir mit unseren Absichten und Werten gerade stehen. Auf natürliche, wertfreie Art zeigen sie uns, wann wir uns hinter Masken verbergen oder uns innerhalb alter, unreflektierter Gefühls- und Verhaltensmuster bewegen. Sie vermitteln uns Menschen Wärme, Stärke, Sanftmut, Wildheit und Sicherheit zugleich. All diese Eigenschaften machen das Pferd für die menschliche Lebensschule zu einem hilfreichen Partner, und deshalb werden Pferde seit mehr als 40 Jahren in Deutschland ganz gezielt in heilpädagogischen, ergotherapeutischen oder physiotherapeutischen Arbeitsfeldern im Rahmen von Entwicklungs- und Heilprozessen eingesetzt. Dass das Pferd darüber hinaus eine Stellung als unterstützender Partner in der Psychotherapie erhält, setzt sich mehr und mehr durch. Diese Zusammenarbeit stellt eine einzigartige Verbindung zwischen Mensch und Tier dar, die auf große positive Resonanz bei Ärzten, Heilpraktikern, Klinikern und nicht zuletzt den Patienten bzw. Klienten selbst stößt. Die Nachfrage nach pferdegestützten Angeboten ist enorm, und auch die Fachwelt öffnet sich vermehrt diesem Thema. Während die Wissenschaft noch nach eindeutigen Strukturen oder nachvollziehbaren und vergleichbaren Forschungsergebnissen sucht, ist es für den Prozessbegleiter und den Klienten, der seine Entwicklung in der pferdegestützten Umgebung erlebt, ganz eindeutig, wie heilsam, unterstützend und nährend Pferde sein können. Die hier vorgestellte Art, Pferde mit in den Wachstumsweg von Menschen einzubeziehen, nennt man pferdegestützte Prozessbegleitung. Sie ist eine Komposition aus einem zielorientierten, kurzfristig wirksamen Coaching und mittel- bis langfristig wirksamem therapeutischen Tiefgang. Die Therapie beinhaltet eine Unterstützung des Klienten selbst in anspruchsvollen Grenzbereichen der Persönlichkeitsentwicklung wie der Behandlung von Traumata, Angststörungen oder Depressionen. Die vegetativ regulierende Nähe eines Pferdes Ein maßgeblicher Faktor für den Erfolg des therapeutischen Prozesses und Coachings ist die energetische Verwurzelung der Pferde in sich selbst, ihre Fähigkeit, im Augenblick präsent zu sein, ihr In-sich-selbst-Ruhen, ihr überwiegend regulierter Zustand und die Tendenz, immer wieder zu diesem ausgeglichenen Ruhepunkt zurückzukehren. Dieses regulierte Nervensystem der Pferde unterstützt die Neurozeption von Sicherheit beim Menschen. Neurozeption ist ein Begriff, den Dr. Stephen Porges, der Begründer der Polyvagaltheorie*, geprägt hat und der die Fähigkeit aller Säugetiere beschreibt, ihr Umfeld permanent und unterbewusst auf potenzielle Gefahren hin zu scannen. Wenn wir uns in Gefahr wähnen, erzeugt der Grenzstrang des Sympathikus, einer der drei Nervenkreisläufe des autonomen Nervensystems, der für Flucht und Kampf und somit für unseren Schutz zuständig ist, eine Abwehrhaltung und mindert dadurch unsere Möglichkeiten zur emotionalen Öffnung. Dadurch ist der Zugang zu unserer Lebensenergie und zu anderen Menschen erschwert. Das heißt: Wenn wir uns mit Menschen und Situationen nicht sicher fühlen oder uns unsere Emotionen und Gefühle wieder einmal zu überschwemmen drohen, haben wir, vereinfacht ausgedrückt, keine Möglichkeit, uns auf Wachstum und Entwicklung einzulassen. Menschen können sich die Ausgeglichenheit der Pferde zunutze machen. Die meisten fühlen sich in der Gegenwart eines Pferdes, das gelassen grast, ruhig vor sich hin döst oder entspannt neben einem steht, sicher, und sie erleben solche Situationen als beruhigend und unaufdringlich. Der ventrale Vagus, jener Teil des Nervensystems des Pferdes, der für soziale Interaktion, Ruhe, Ausgeglichenheit oder Entspannung verantwortlich ist, hilft also auch den Klienten, sich selbst zu regulieren und ihre Zustände von Angst, Anspannung, Trauer oder Schmerz leichter zu tragen. Nachdem sich diese Gefühle etwas beruhigen durften, wird die Verbindung zum Tier bzw. wird das, was diese Verbindung hervorruft, von vielen als heilsam, berührend, herzöffnend und warm beschrieben. Nicht selten stellen sich Gefühle von Geborgenheit, Vertrauen und Sicherheit ein – Attribute, die in der Beziehung von Mensch zu Mensch bei vielen Klienten schon vor langer Zeit verloren gingen, aber in der Verbindung von Mensch zu Pferd wieder positiv erlebt werden können. So wird ein Prozess in die Wege geleitet und gefördert, der von Neurobiologen wie Dr. Gerald Hüther als Neuverhandlung bezeichnet wird. Hier werden durch ein achtsames und vorsichtiges Vorgehen, durch ein der Situation angemessenes und individuelles Tempo sowie eine vertrauensvolle und sichere Umgebung jene Erfahrungen, die im Gehirn als schmerzhaft oder gar lebensbedrohlich abgespeichert wurden, um positive Assoziationen ergänzt – oder letztendlich sogar ersetzt. So entstehen Chancen zur Modifikation und Transformation unserer Reaktionen auf alte Erlebnisse. Es werden Selbstreflexion und persönliche Entwicklung bis hin zur Auflösung alter Muster oder emotionaler Limitierungen möglich. Diese Unterstützung der Regulationsfähigkeit des Menschen durch Pferde wird als eine der Grundlagen der pferdegestützten Prozessbegleitung erlebt. Menschen, die in Kontakt mit Pferden kommen, berichten regelmäßig davon, dass Spannungen, Aufregung, Angst, Schmerzen und Unsicherheit abnehmen, dass sich etwas in ihnen beruhigt und mehr Öffnung und eine Art innerer Frieden entstehen. Und so wird langsam auch die Verbindung zu anderen Menschen wieder einfacher. • Übung: der Hindernis-Parcours Bei dieser Übung geht es darum, sich mit einer unklaren Ausrichtung oder einer anstehenden Veränderung auseinanderzusetzen, oder damit, was es braucht, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. In dieser Übung werden Ziele oder anstehende Veränderungen erarbeitet, wie eine neue Situation im Beruf oder in der Beziehung oder etwa das verstärkte Verwirklichen einer im Seminar erlebten Qualität. Viele setzen sich in dieser Übung das Ziel, jene neu entdeckten Attribute mehr in ihr Leben zu integrieren. Sobald also das Ziel, das für den Seminarteilnehmer die meiste Energie und Motivation enthält, gefunden ist, lädt der Seminarleiter ihn dazu ein, einen Parcours aufzubauen. Es werden Pylone, Stangen, Reifen oder Ähnliches errichtet, um die Hindernisse zu repräsentieren, die sich dem gesteckten Ziel oder der Veränderung in den Weg stellen. Das können Charaktereigenschaften, Familienmitglieder, Partner oder Situationen sein. Danach stellen die Teilnehmer die Qualitäten in ihrem Leben auf, die sie darin unterstützen, das Ziel oder die Veränderung zu erreichen. Im Anschluss wird der Mensch mit einem Pferd seiner Wahl auf den Weg durch diesen Parcours geschickt. Immer wieder grenzt es an ein Wunder, wie deutlich die Pferde anzeigen, was die aufgestellten hinderlichen Repräsentanten aussagen. Manche Blockaden, die den Teilnehmern als groß und unüberwindbar scheinen, werden einfach links liegen gelassen oder ignoriert. Sie bekommen einen neuen Stellenwert und verlieren meistens ihre negative Kraft. Vor manchen Barrieren bleiben die Tiere einfach stehen, und der Mensch hat dadurch Zeit, die Tragweite dieser Hindernisse oder aber auch die Unterstützung, die sie in ihrem Leben bedeuten, intensiv zu spüren. Manchmal stellen sie fest, dass es an der Zeit ist, etwas loszulassen oder anzupacken. Manche, die unsicher und zurückhaltend in den Parcours gehen, beginnen auf einmal, die Pferde lässig und flüssig durch die Übung zu führen, und entdecken dadurch neue Zuversicht oder Leichtigkeit im Zusammenhang mit dem „aufgebauten“ Thema. Eine neue Perspektive kann sich eröffnen. Beispiel: Selbstvertrauen aufbauen Eine neue Perspektive zeigte sich auch für Norbert S., einen Teilnehmer, der zusammen mit seiner Frau eines der Seminare besuchte und mit ihr ein großes Bauprojekt plante, um ihren gemeinsamen Traum zu verwirklichen. Er hatte als Hindernis seine Familie und insbesondere seinen Vater aufgebaut. Als er und das Pferd, eine schwarz-weiß gescheckte Stute, sich auf den Weg durch den Parcours machten und am Platz des Vaters ankamen, blieben das Pferd und Norbert plötzlich stehen. Er senkte betroffen den Kopf: „Ich kann nicht weiter, ich komme einfach nicht an ihm vorbei!“, sagte er nach einigen Momenten der Stille und begann, leise zu weinen. Die Prozessbegleiter und auch die anderen Teilnehmer, die zuschauten, spürten die tiefe Verletzung, die er erfahren haben musste, und auch den mächtigen Druck, der auf den Schultern dieses Mannes lastete, seinem Vater immer alles recht machen zu müssen. Sein Leben, seine Ziele und seine Freiheit hingen immer schon vom Wohlwollen des Vaters ab, einem erfolgreichen Unternehmer. Norberts Angst, ein Ziel zu verfolgen, das vom Vater nicht befürwortet wurde, und die Angst zu versagen, ließen ihn fast erstarren und völlig ohnmächtig zurück. Seine Schecken-Stute stand neben ihm und wich ihm nicht von der Seite. Die Reithalle, in der die Übung stattfand, war ausgefüllt von mitfühlender Aufmerksamkeit für Norbert und den Emotionen, die durch die Konfrontation mit seinem Vater in diesem Moment ausgelöst wurden. Dann schritt eines der anderen beiden Pferde, die sich in der Reithalle befanden, ein großer schwarzer und eindrucksvoller Friesen-Wallach, hinter der Zuschauerbank hervor. Er stellte sich langsam hinter Norbert, um ihn zart und vorsichtig mit seinem großen schwarzen Kopf am Rücken, in der Höhe des Herzens, zu berühren. Erst beruhigte sich etwas in Norbert sehr deutlich, bis ein für alle sichtbarer und für viele spürbarer Ruck durch seinen Körper ging. Alles an ihm richtete sich auf. Alle im Raum bekamen Gänsehaut, wie später in der Nachbesprechung berichtet wurde. Norbert war sichtbar größer geworden, stand stabiler und breitbeiniger da. Der Blick war nun nicht mehr zu Boden gerichtet, sondern klar und kraftvoll in Richtung seines imaginären Vaters, der immer noch zwischen ihm und dem Ziel stand, das er gemeinsam mit seiner Frau ins Leben bringen wollte. Das Bild der Stute und des schwarzen Friesen, der Norbert den Rücken stärkte, war von anmutiger Schönheit, gemeinschaftlicher Unterstützung und magischer Verbindung geprägt und kann in Worten kaum wiedergegeben werden. Auf einmal ging Norbert los, mit der Stute an seiner Seite und dem großen Schwarzen hinter sich, am Vater vorbei: Selbstbewusst und als Mann, der sich nicht mehr von den Erwartungen und Bewertungen anderer manipulieren und einschüchtern lässt. Sicheren Schrittes gingen die drei auf das Ziel zu. Als sie ankamen, drehte sich Norbert zu den Zuschauern und seiner Frau um und verneigte sich stolz, als ob er wortlos zum Ausdruck bringen wollte: „Nun beginnt ein neues Leben, und ich entscheide, was damit passiert und wohin ich gehe!“ Seine Frau weinte glückliche Tränen, denn darauf hatte auch sie so lange gewartet. Sie sah ihren Mann in seiner ganzen Kraft, wie er für sich und ihr gemeinsames Ziel aufstand und begann, sich durchzusetzen. Heute, 3 Jahre nach dieser Übung, ist das Projekt umgesetzt worden. Mit Freude verfolgen alle, die damals im Seminar anwesend waren, wie die Beziehung der beiden und auch ihr Projekt wachsen und gedeihen konnten. Wieder in Kontakt mit der eigenen Lebensenergie kommen Erst wenn das Nervensystem von uns Menschen wieder insoweit reguliert ist, dass wir uns nicht mehr im Verteidigungs-, Flucht- oder im kollabierten Modus befinden und ein Gefühl von vertrauensvoller Sicherheit wahrnehmen können, erst dann können sich tiefer liegende Schichten unseres Erlebens zeigen, und wir können wieder in Kontakt mit unserer Lebensenergie, unserem Mut und unserer Zuversicht kommen. Erst dann können wir uns unseren limitierenden Strategien zuwenden, darüber hinauswachsen und weitergehen. Persönliche Entwicklung und Heilung entstehen auf die gleiche Weise: indem wir unsere Vergangenheit nicht verleugnen, aber das Hauptaugenmerk auf unser gegenwärtiges, somatisches Erleben und auf unsere Stärken legen und, wie die Pferde, im Hier und Jetzt ankommen. Wir schaffen das, indem wir auf unser konditioniertes Verhalten aufmerksam werden, indem wir lernen, wieder in jedem Moment präsent zu sein, jedem Gefühl oder jeder Emotion einen Halt in uns geben können und ihnen gegebenenfalls ihren angemessenen Ausdruck verleihen. So können wir der Energie in uns irgendwann einen vollständigen Abschluss ermöglichen. Etwas, das uns beim ersten bewussten Wahrnehmen noch ziemlich viel Angst macht, kann beim nächsten Mal bereits mit weniger Herzklopfen oder einer weniger flachen Atmung einhergehen. Wir lernen, damit umzugehen. Schritt für Schritt entwickelt sich eine neue Routine, die keine großartige Aktivierung unseres zentralen Nervensystems mehr zur Folge hat. Je öfter wir erleben, dass wir imstande sind, uns mithilfe der Pferde auf die entstehenden Gefühle einzulassen, umso mehr lernen wir, unseren Herausforderungen etwas entgegenzusetzen, und desto tiefer gräbt sich dieses Meistern der Situation in unser Gehirn ein. Das birgt die Möglichkeit, aus einer zunehmenden Widerstandsfähigkeit heraus eine positive Erfahrung zu machen, die sich langfristig konstruktiv auf unsere Lebensbewältigung auswirkt. Diese Erlebnisse sind bekräftigend und befreiend! Hier entsteht ein innerer Raum, der uns unabhängiger von äußeren Umständen macht und uns unserer Fähigkeit näherbringt, Stabilität in uns selbst zu finden. Unsere Resilienz steigt, ein positiver Kreislauf hat begonnen. Beispiel: in seine Mitte zurückfinden Das macht auch das Beispiel von Heike L. deutlich, die, seit sie denken kann, mit der Unsicherheit zu kämpfen hat, ihren Platz im Leben zu finden. Sie stand im Roundpen, einem abgesteckten Kreis auf einem sandigen Reitplatz, unter freiem Himmel. Zwei Pferde umkreisten sie unruhig, liefen immer wieder nah an ihr vorbei und schubsten sie sogar leicht. Es herrschte sichtliches Chaos, und Heike war sehr angespannt und überwiegend damit beschäftigt, den Pferden aus dem Weg zu gehen. Sie hatte sich in eine Situation hineinbegeben, auf die sie im Moment keinen Einfluss zu haben schien. Sie hatte keine Kontrolle über das, was passierte, und ihr fehlte offensichtlich eine Strategie, etwas an ihren Umständen zu ändern. Mit einem erschöpften Lächeln und irritiert schaute sie uns an und sagte: „Ja, so ist es in meinem Leben! Alles ist wirr, ich habe kein Ziel, fühle mich verloren und finde keinen Halt! Ich habe darauf keine Lust mehr!“ Nachdem sie hektisch versucht hatte, die Pferde zu beruhigen oder sich ihnen in den Weg zu stellen, leiteten die Prozessbegleiter sie an, einmal etwas anderes zu versuchen, als die Welt um sich herum ändern oder kontrollieren zu wollen. Sie unterstützten sie sanft dabei, erst einmal zu sich selbst zu kommen, sich zu spüren, indem sie Kontakt mit der Erde, ihrem Herzschlag und mit dem gerade vorherrschenden Gefühl in sich aufnahm. So wurde sie nicht mehr abgelenkt von all dem, was um sie herum passierte. In Verbindung mit sich selbst beruhigte sich schnell etwas in ihr, sie atmete langsamer, die Bewegungen wurden weicher, und ihr Blick wurde klarer. Während sie versuchte zu erspüren, was es für sie in dieser Situation bräuchte, parierte ein Pferd aus dem Trab in den Schritt, wurde langsamer und schob Heike ganz sacht im Vorbeigehen in die exakte Mitte des Roundpens. Wie vom Blitz getroffen rief sie laut in Richtung der anderen Seminarteilnehmer: „Meine Mitte wiederfinden, darum geht es, ja klar!“ Sie schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. In dieser Sekunde, in der sie dort stand und ihre Mitte wahrnahm, blieben beide Pferde augenblicklich stehen. Eine vollkommene Ruhe kehrte ein, die regelmäßig im Kontext mit Pferden auftritt, wenn eine makellose Wahrhaftigkeit allgegenwärtig wird, die den ganzen Raum und die Menschen darin ausfüllt. Als sie die Augen öffnete und sich in dieser neuen Situation wiederfand, verlor Heike den hoffnungslosen Ausdruck in ihrem Gesicht, und sie konnte erleichtert lachen. Sie konnte nun in ihrem Körper spüren, welche Haltung und Ausrichtung es in ihrem Leben brauchte, um eine andere Wirklichkeit für sich zu erschaffen, und was es heißt, in der eigenen Mitte zu stehen. Für Pferde ist kein Gefühl gut oder schlecht Eine Voraussetzung, um uns selbst regulieren und dadurch mehr für heilsame Prozesse öffnen zu können, ist, dass wir mit uns selbst in Kontakt treten. Deshalb ist die Fähigkeit, mit unseren Körperempfindungen und unseren Gefühlen verbunden zu sein „die fundamentale Ressource überhaupt“, sagt Laurence Heller, einer der führenden Traumatherapeuten weltweit. Damit wir das schaffen, ist es wichtig, unserem Körper, unseren Gefühlen und unserer Intuition Aufmerksamkeit zu schenken, sie wahrzunehmen und ihnen auch zu vertrauen. Es geht darum, die vorhandenen Fähigkeiten für einen gesunden Kontakt zu erspüren und diese zu stärken, ohne daraus sofort wieder ein leistungsabhängiges Ziel und somit Druck zu kreieren. Für Pferde ist kein Gefühl gut oder schlecht, d. h. alles, was gefühlt und erlebt wird, auch die für uns Menschen vermeintlich „negativen“ Gefühle, werden von den Tieren nicht verurteilt – eine Erfahrung, die die meisten von uns nie machen durften. Die Pferde stellen hier einen feinstofflichen Raum zur Verfügung, in dem es vielen Menschen gelingt, sich auf das Risiko von Kontakt und Nähe einzulassen. Wer einmal erlebt hat, wie feinfühlig Pferde sich einem Menschen nähern, wie sie ihn in ihrer unmittelbaren Nähe zulassen, wie sie ihn darin unterstützen, sich selbst wieder wahrzunehmen oder sogar wieder für sein Spürbewusstsein zu öffnen, wird diese magischen Augenblicke nicht vergessen. Pferde sind für viele Menschen nicht negativ belegt, werden sogar oft seit Kindheitstagen als sanfte, vertrauensvolle, sogar liebevolle Freunde assoziiert. Das macht es für viele leichter, auf diese großen Tiere zuzugehen. So laden Pferde auch Menschen mit unsicherem oder ambivalentem Bindungsmuster durch ihr sanftes Gemüt, ihr weiches Fell, ihre Zartheit und ihre Sanftmut zu emotionaler und physischer Berührung ein. Das zeigt sich beispielsweise schon durch das bloße Nebeneinanderstehen oder einfache Berührungen wie Streicheln und die damit zusammenhängende empfundene Körperwärme und Weichheit. So können die Tiere Akzeptanz und Bestätigung spenden sowie die emotionale Öffnung des Menschen fördern. Die Pferde, die den Prozess begleiten, sind nicht speziell ausgebildet. Das ist gerade so wichtig, da sie so die ganze Bandbreite an Charakterzügen beibehalten – ihre Zartheit, Aggression, Wildheit –, die wir Menschen eben auch in uns tragen. Das „Nicht-ausgebildet-Sein“ der Pferde kann genau das enorme Spektrum an Projektionsfläche zur Verfügung stellen. Beispiel: es sich selbst wert sein Marita E. kam, um sich ihre Tendenz anzuschauen, es allen und jedem recht machen zu wollen. Die Prozessbegleiter luden Marita ein, auf ihre Intuition zu achten und ohne viel darüber nachzudenken, sich dort hinzubegeben, wohin ihr Impuls sie lenkte. Langsam ging sie in Richtung der kleinen Herde, die am Rande der Koppel ruhig und rhythmisch graste und sich wenig um unsere kleine Menschenansammlung kümmerte. Marita blieb stehen und betrachtete heiter das Spiel der Pferde, die ab und zu den Kopf hoben, um sich umzuschauen oder sich um die saftigsten Gräser bemühten. Marita genoss die friedliche Atmosphäre nach den anstrengenden letzten Jahren, wo sie in ihrer Beziehung unglücklich gewesen war und ihr Beruf sie mehr und mehr belastet hatte. Für all das hatte sie keine wirkliche Erklärung. Sie tue doch ihr Bestes, um alles aufrechtzuerhalten, erzählte sie. Eine der kleineren Stuten löste sich aus der Herde, kam sehr zielstrebig auf Marita zu und legte sich vor ihr auf das weiche Gras. Wer mit Pferden zu tun hat, weiß, dass sie sich selbst in der Nähe jener Menschen, die sie gut kennen, nur selten auf den Boden legen, weil das immer noch ihre verletzlichste Position ist. Meistens passiert das nur im sicheren Umfeld der Herde. Die kleingewachsene Stute aber machte genau das: Sie ließ sich etwa einen Meter vor Marita nieder und lag nun da. Marita begann, tief auszuatmen und fing an, bitterlich zu weinen. Sie sagte: „Genauso fühle ich mich auch, völlig erschöpft und ausgelaugt.“ Nachdem sie einige Minuten geweint hatte und so die Gefühle wieder ins Fließen kommen durften, löste sich etwas von ihrer Körperspannung. Sie sagte, dass sie das erste Mal seit vielen Jahren wieder weinen und zum ersten Mal überhaupt diese unglaubliche Erschöpfung in sich spüren konnte. Wir wissen nicht, was die Stute fühlte oder dazu veranlasste, sich hinzulegen, aber indem sie es tat, bekam Marita Zugang zu einem tieferen Schmerz und einer Müdigkeit, die von Jahren der Anpassung und Verleugnung der eigenen Bedürfnisse herrührte: „Immer bin ich die, die in unserer Abteilung alles macht, wenn es kein anderer tun will, und ständig gebe ich nach, wenn mein Partner und ich uns uneinig sind.“ Nur ein kurzer Moment an diesem Tag mit den Pferden reichte aus, um wieder in Kontakt mit einem Gefühl zu kommen, das Marita klar verdeutlichte, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie konnte erkennen, dass das ständige Bedienen der Erwartungen anderer, das Nachgeben in Konfliktsituationen oder das fehlende Einstehen für die eigenen Grenzen aus einer tief sitzenden Harmoniebedürftigkeit resultierte. Unbewusst hatte sie bis dahin nach dem Glaubenssatz gelebt: „Immer wenn ich für mich sorge, werden die anderen sich abwenden oder mich verlassen.“ Das erzeugte in ihr eine existenzielle Angst, ins Bodenlose zu fallen. Marita kam noch einige Male, um langsam wieder mithilfe der Pferde in Kontakt mit ihren Bedürfnissen und Grenzen zu kommen. Sie begann immer mehr, für ihren Selbstwert und ihre Würde einzustehen und sie nicht mehr für ein bisschen Aufmerksamkeit zu verleugnen. Marita hat mittlerweile ihre Beziehung zu ihrem Partner auf ein neues Fundament gestellt, weil sie heute weiß, was die Ursachen ihrer ständigen Anpassung und der damit einhergehenden Erschöpfung in ihrem Leben sind. Heute versteht sie, dass es ihr Lebensrecht ist, für sich zu sorgen. Alles ist willkommen Pferde können uns darin unterstützten, unseren wahren und individuellen Weg zu finden. Sie spüren jegliche Form von fehlender Übereinstimmung zwischen dem vermittelten und dem tatsächlichen Gefühl, dem „Außen“ und „Innen“ eines Menschen, denn Pferde sind Fluchttiere. Inkongruenz führt dazu, dass sie verweigern, oder auch zu Desinteresse oder sogar zu Aggression. Authentizität und Übereinstimmung von innerem Empfinden und äußerem Ausdruck hingegen führen zu Vertrauen. Durch den Umweg über die Pferde als Projektionsfläche oder vertrauensvolle Partner können wir Menschen uns auf unterschiedlichsten Ebenen wieder neu erfahren. Durch das Lösen von alten Begrenzungen können wir wieder mehr in unseren natürlichen Fluss finden – unsere essenzielle Seite wird sichtbar. Physisch, mental und spirituell können wir lang vergessene Fähigkeiten wieder neu erleben und damit die Unausgewogenheit in uns selbst und in der Welt um uns herum heilen. Wenn wir Menschen bereit sind, uns offen und neugierig auf die Pferde einzulassen und vom „hohen Ross“ herabsteigen, zeigen sie uns ihre magischen und heilsamen Fähigkeiten, die uns in unserer Persönlichkeitsentwicklung unterstützen. Manuela und Carsten Essig * Siehe NATUR & HEILEN 12/2019 „Der Selbstheilungsnerv. Wirksame Hilfe zur Aktivierung des Vagus-Nervs“ Über die Autoren Manuela und Carsten Essig bieten Seminare zu unterschiedlichsten Lebensbereichen mit und ohne Pferde, Ausbildungen zum pferdegestützten Prozessbegleiter sowie Einzel- und Paartherapie in der Nähe des Ammersees in Bayern (https://leben-lieben-lernen.com).

Der Artikel "Pferdegestützte therapeutische Begleitung" ist Teil der Audio-Ausgabe Juli 2023

Pferdegestützte therapeutische Begleitung

Wie Pferde Menschen auf ihrem Entwicklungsweg unterstützen

Editorial Juli 2023 · Die Blumen des Anderen wässern · Deep Listening · Chronische Entzündungen · Pferdegestützte therapeutische Begleitung · Restless Legs · Schwarzer-Pfeffer-Extrakt · Juli 2023 – Mit Gott im Grünen · PLUS: Die komplette Ausgabe in einem Track

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