Bindung schafft Sicherheit im Leben

Bindungen sind das Fundament, auf dem wir unsere Persönlichkeit entwickeln. Die Bindungserfahrungen der ersten Lebensjahre zu den wichtigsten Bezugspersonen wie Eltern, Großeltern oder Geschwistern beeinflussen unsere späteren Beziehungsmuster. Sie entscheiden mit darüber, ob wir tendenziell stressanfällig oder stressresistent sind, ob wir eher selbstbewusst oder unsicher auftreten. Und doch sind diese frühkindlichen Bindungsmuster nicht in Stein gemeißelt. Durch selbst gewählte Beziehungen im späteren Leben wie Freundschaften, Partnerschaft oder Ehe können auch ungünstige Beziehungsstrategien überschrieben werden. „In Bindungsfragen ist der Mensch äußerst lernfähig – ein Leben lang“, konstatiert Bindungsforscherin Prof. Dr. Anna Buchheim von der Universität Innsbruck. Sie zählt zu den führenden Bindungsforschern im deutschsprachigen Raum und hat u. a. Therapieansätze entwickelt, um Menschen mit ungünstigen Bindungserfahrungen zu helfen. Frau Prof. Buchheim, Sie sind Bindungsforscherin. Was beschreibt die Bindungstheorie? Einerseits ist die Bindungstheorie ein Konzept, das uns hilft, besser zu verstehen, warum wir Menschen Beziehungen suchen und enge emotionale Bindungen zu anderen entwickeln. Sie hilft uns aber auch zu erkennen, inwiefern die Erfahrungen, die wir in den ersten Beziehungen am Anfang des Lebens machen, unsere spätere psychosoziale Entwicklung beeinflussen. Ist dieses Bedürfnis ein originär menschliches oder teilen wir es mit anderen Spezies? Der Begründer der Bindungstheorie, John Bowlby, ein britischer Kinderarzt und Kinderpsychiater, kannte die Arbeiten von Konrad Lorenz, der das Verhalten von Graugänsen und Enten studiert hat. Konrad Lorenz hat verstanden, dass Küken eine enge Bindung zum Muttertier aufbauen und durch diese Beziehung geprägt werden. Dass dieses Bedürfnis nach Nähe nicht durch Hunger und die Notwendigkeit der Ernährung gestillt wird, sondern tatsächlich emotionalen Bedürfnissen folgt, hat auch ein anderer, für das Verständnis des Bindungsverhaltens wichtiger Wissenschaftler gezeigt. Der US-amerikanische Psychiater Harry Harlow hat 1958 an der Universität Wisconsin demonstriert, dass Rhesusaffen-Babys, die nur mithilfe von Stoffattrappen, also nicht von lebendigen Affenmüttern, großgezogen wurden, die Nähe dieser kuscheligen Attrappen suchten und eine Bindung zu ihnen aufbauten, obwohl diese keine Nahrung spendeten. Was war die Quintessenz dieses Experiments? Dass das Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit dem Streben nach konstanter Nahrungsaufnahme überlegen ist. Insofern scheint das Grundbedürfnis nach enger Bindung kein spezifisch menschliches, sondern auch anderen Lebewesen eigen zu sein. Hormone für eine bessere Stressregulation Und welchem Zweck folgt das Bedürfnis nach Nähe? Das sind zunächst existenzielle Schutzbedürfnisse. Wenn ich mich in der Nähe von vertrauten Menschen weiß – bleiben wir bei der Mutter als der wichtigsten Bezugsperson –, weiß ich, dass ich das, was ich zum Leben brauche, bekomme – also Nahrung, Pflege, Schutz und eben auch Liebe und Zuwendung. Das Streicheln und Liebkosen fördert einerseits die Bindung zwischen Mutter und Kind und hat gleichzeitig einen beruhigenden, stressreduzierenden Effekt. Inwiefern? Insofern, als dass durch den Berührungsreiz die Ausschüttung von Hormonen und Botenstoffen angeregt wird, beispielsweise des als Bindungshormon bekannten Oxytocins, von dem sowohl eine stressregulierende als auch eine beruhigende Wirkung ausgeht. Auch das serotonerge System und damit die Ausschüttung des Glückshormons Serotonin wird durch die Nähe zur Mutter stimuliert. Darüber hinaus werden schmerzregulierende Opioide produziert. Alles in allem kann man sagen, dass die biochemischen Prozesse, die durch Nähe und Zuwendung initiiert werden, ein Sicherheitsgefühl etablieren, das sich in Entspannung, Wohlbehagen und letztlich Zufriedenheit äußert, also einem erstrebenswerten und für die Entwicklung des Kindes wichtigen Zustand. Befördern diese biochemischen Prozesse auch die Bindung zur Mutter? Ja, aber auch umgekehrt. Vor allem während des Stillens wird Oxytocin ebenfalls bei der Mutter vermehrt ausgeschüttet. Auch bei der stillenden Mutter rufen Hormone und Neurotransmitter ein Wohlgefühl hervor und stärken so die Bindung an den Säugling. Allein beim Anblick des eigenen Kindes werden Hirnregionen aktiviert, die mit dem Belohnungssystem der Mutter assoziiert sind und sowohl die Bindung an als auch die Fürsorge für das Kind fördern. Eine starke emotionale Bindung mütterlicherseits ist u. a. eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Mutter eine Feinfühligkeit dafür entwickelt, die Signale ihres Kindes zum einen wahrzunehmen und zum anderen, diese Signale richtig zu interpretieren. Dass die Mutter also weiß, was ihr Kind jeweils braucht, und dass sie auf die Bedürfnisse ihres Kindes prompt und angemessen, also der jeweiligen Situation und dem Alter des Kindes entsprechend reagiert. Die Natur hat da sehr feine Interaktionsmechanismen zwischen Mutter und Kind vorgesehen, die letztlich der Arterhaltung dienen, konkret dem gesunden Heranwachsen des Kindes und der Stärkung der Gemeinschaft, ohne die ein Überleben früher kaum möglich war. Was passiert mit Kindern, deren Signale und letztlich Bedürfnisse nicht wahrgenommen werden? Der österreichisch-amerikanische Psychoanalytiker René Spitz war einer der ersten Wissenschaftler, die der Situation von Waisenkindern Beachtung geschenkt haben, die in Säuglingsheimen großgezogen wurden. Diese Kinder wurden versorgt mit Nahrung, sie wurden gewaschen und gewickelt. Aber sie erfuhren kaum Zuwendung und konnten keine Bindung zu einer wichtigen Bezugsperson aufbauen. Spitz erkannte, dass die Säuglinge ohne liebevolle Betreuung physisch, emotional und sozial verkümmerten. Ähnliche Befunde erbrachten Aufzeichnungen aus rumänischen Waisenhäusern, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs der Öffentlichkeit zugänglich wurden. Kleinkinder, die ohne Liebe und Fürsorge aufgewachsen waren, konnten sich nicht altersgerecht entwickeln, und viele verstarben frühzeitig. Man muss davon ausgehen, dass solche Babys enormem Stress ausgesetzt waren, u. a. deshalb, weil sie keine altersgerechten Stressregulationsmechanismen entwickeln konnten. Das machte sie grundsätzlich stressanfälliger – auch im späteren Kindes- und Erwachsenenalter, sofern nicht gegengesteuert wurde. Aus Tierversuchen wissen wir, dass beispielsweise Rattenjunge, wenn man sie vom Muttertier trennt, deutlich erhöhte Cortisol-, also Stresswerte aufweisen. Transgenerational übernommene Bindungsmuster Sind alle Mütter gleichermaßen in der Lage, ihrem Kind die notwendige liebevolle Fürsorge und Zuwendung zu gewähren oder gibt es auch mütterlicherseits Einschränkungen? Die gibt es, und sie sind mannigfaltiger Natur. Wöchnerinnen, die eine sogenannte Kindsbettdepression entwickeln, sind beispielsweise nicht so gut in der Lage, die Signale und emotionalen Regungen ihres Kindes wahrzunehmen und adäquat darauf zu reagieren. Das ist ein Dilemma, nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Frauen, die ja in der Regel selbst darunter leiden. Es gibt aber auch das Phänomen der transgenerational übernommenen Bindungsmuster, die es der Mutter erschweren, eine enge Bindung zu ihrem Kind aufzubauen und den kindlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. Könnten Sie das ein bisschen genauer ausführen? Was bedeutet transgenerational? Die Bindungserfahrungen, die wir als Babys und Kleinkinder machen, können insofern transgenerational werden, als dass wir uns diesen Erfahrungen entsprechend, wenn wir selbst Eltern werden, unseren Kindern gegenüber verhalten und auch anderen Bezugspersonen wie z. B. Lebens- oder Ehepartnern. Die Bindungsforscher Karin und Klaus Grossmann, von denen ich sehr viel lernen durfte, haben sehr gut darlegen können, dass und wie kindliche Bindungserfahrungen den eigenen Bindungsstil im Erwachsenenalter prägen können – und zwar indem wir das, was wir als Kleinkinder in den Interaktionen mit unseren wichtigsten Bezugspersonen erfahren und gelernt haben, so weit internalisiert haben, dass es Teil unserer eigenen Verhaltensmuster geworden ist. Menschen verfügen ein Leben lang über ein sogenanntes Bindungsverhaltenssystem, das vor allem in existenziellen Situationen, etwa bei schweren Belastungen, großen Gefahren oder auch Trennungen aktiviert wird, um die Nähe zur Bindungsperson aufrechtzuerhalten oder im Fall gegebener Distanz wiederherzustellen. Bindung ist letztlich eine, wenn nicht die Voraussetzung für soziales Lernen, für das Erproben und Austesten von Verhaltensstrategien, und zwar mit einem Interaktionspartner, zu dem das Kind ein enges Vertrauensverhältnis aufbaut und sich sicher und geborgen fühlt. In der Regel ist das die Mutter. 4 verschiedene Bindungstypen Wie äußern sich frühe Bindungserfahrungen und welche Unterscheidungskriterien gibt es? John Bowlby, der Begründer der Bindungstheorie, hat basierend auf den Arbeitsmodellen und Erkenntnissen von Mary Ainsworth 4 grundlegende Bindungsmuster definiert. Das sichere Bindungsmuster, das unsicher-vermeidende Bindungsmuster, die unsicher-ambivalente Bindung und die unsicher-desorganisierte Bindung, wobei etwa 65 % der Bindungen als sicher gelten und rund 15 % als unsicher-desorganisiert. Der Rest verteilt sich auf die zwei anderen Stile. Wodurch zeichnen sich die jeweiligen Bindungstypen aus? Dafür würde ich gern ein bisschen ausholen und erklären, wie Mary Ainsworth diese Kategorisierung entwickelt hat. Sie hat ein Versuchs-Setting konzipiert, das als „Fremde-Situation-Test“ bezeichnet wird, bei dem man aus dem Verhalten und den Reaktionen einjähriger Kinder nach kurzzeitiger Trennung von der Bindungsperson Rückschlüsse auf die jeweilige Beziehung zu dieser Person ziehen kann. Die Bindungsperson kann die Mutter, der Vater, ein Geschwisterkind, ein Großelternteil oder wer auch immer sein. Einfachheitshalber werde ich von der Mutter als wichtigster Bezugsperson sprechen. Das Setting war folgendes: Mutter und Kind betreten ein Spielzimmer und finden sich in der neuen Umgebung zurecht. Die Mutter liest ein Buch, das Kind spielt. Nach gewisser Zeit kommt eine fremde Person hinzu und nimmt Kontakt zum Kind und zur Mutter auf. Dann verlässt die Mutter den Raum und lässt ihr Kind für 3 Minuten zurück mit der fremden Person. Das ist die erste Trennung. Nach 3 Minuten kommt die Mutter zurück, und die fremde Person verlässt den Raum. Nach einer Weile geht die Mutter erneut und lässt das Kind komplett allein. Kurz danach erscheint die fremde Person abermals. Sobald die Mutter zurückkehrt, geht die fremde Person. Das Kind wird also einmal mit einer fremden Person allein gelassen und beim zweiten Mal zunächst komplett allein, wobei die fremde Person als Erste in den Raum tritt und die Mutter erst später wiederkommt. Das sichere Bindungsmuster Und wie reagierten die Kinder auf diese für sie ungewohnten Situationen? Kinder mit einer sicheren Bindung weinten, wenn die Mutter den Raum verließ. Nach ihrer Rückkehr ließen sie sich allerdings sehr schnell von der Mutter trösten und beruhigen. Da sie offenkundig zufrieden waren, dass ihr Bedürfnis nach Nähe zur Mutter wiederhergestellt wurde, konnten sie sich unbeschwert ihrem Spiel widmen. Aus dieser Reaktion schloss Mary Ainsworth, dass diese Kinder offensichtlich eine sichere Bindung zur Mutter aufgebaut haben mussten und darauf vertrauten, dass die Mutter auf ihre Signale (in dem Fall das Weinen) reagieren und den sicheren Zustand wiederherstellen würde. Das heißt, sicher gebundene Kinder wissen, dass sie sich im Ernstfall auf ihre wichtigste Bezugsperson verlassen können. Das gibt ihnen Sicherheit und ist eine gute Basis für ihre Entwicklung. Sind sicher gebundene Kinder weniger ängstlich und stressresistenter? Eine sichere Bindung ist keine Garantie, aber eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich Kinder angstfrei entwickeln und die Welt erkunden können. Dabei sollten sie vor allem in den ersten drei Lebensjahren, aber auch darüber hinaus die Sicherheit haben, auf ihre Bezugspersonen vertrauen zu können. Sicher gebundene Kinder haben es auch später leichter, Hilfe zu erbitten, weil sie die Erfahrung machen durften, dass sie in der Not nicht allein gelassen, sondern unterstützt werden. Das unsicher-vermeidende Bindungsmuster Und wie reagierten Kinder des unsicher-vermeidenden Bindungstyps? Kinder mit einer unsicher-vermeidenden Bindung schien es nichts auszumachen, wenn die Mutter den Raum verlässt. Diese Kinder waren scheinbar unbeeindruckt vom Verlassenwerden und spielten weiter. Aber der Schein trügt. Inwiefern? Auch wenn ein Kind äußerlich gelassen ist, kann es innerlich gestresst sein, nur zeigt es das nicht, es ist eine Strategie, um die Nähe zur Mutter aufrechtzuerhalten. Das spiegelt sich dann auch im späteren Leben in anderen Bereichen wider. Unsicher-vermeidende Kinder können ihre Bedürfnisse nicht so gut ausdrücken, was dann den Anschein erwecken kann, dass sie keine Bedürfnisse haben. Sie zeigen auch nicht, wenn sie enttäuscht oder unzufrieden sind, aus Angst, abgelehnt zu werden. Diese Kinder haben früh gelernt, dass sie die Nähe zur Bezugsperson eher sicherstellen, wenn sie ihrem natürlichen Bedürfnis nach Nähe keinen Ausdruck verleihen und so tun, als wäre es ihnen nicht wichtig. Sie widmen ihre Aufmerksamkeit dann eher dem Außen, der Erkundung der Welt, was letztlich zulasten der Bindung geht. Setzt sich das im weiteren Leben fort? Wenn diese Bindungserfahrung nicht durch andere Erfahrungen ersetzt wird, kann es sein, dass solche Menschen sich im Erwachsenenalter schwerer tun, ihren Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen, und dann möglicherweise nicht die Beachtung finden, die sie bräuchten, sowohl in partnerschaftlichen als auch in anderen sozialen Beziehungen. Aber wie gesagt, das ist nicht in Stein gemeißelt, das kann man lernen, auch nachlernen. Das unsicher-ambivalente Bindungsmuster Wodurch ist die unsicher-ambivalente Bindung geprägt? Durch ambivalente bzw. nicht vorhersagbare Haltungen zunächst bei der Mutter, die sich in den Reaktionen des Kindes widerspiegeln. Wenn eine Mutter z. B. nicht immer adäquat auf die Bedürfnisse ihres Kindes reagiert, sondern mal so und mal so, sodass sich das Kind nicht darauf verlassen kann, dass seine Bedürfnisse beachtet und entsprechend erfüllt werden, ist das Kind verunsichert, weil es nicht genau weiß, woran es ist. Im Versuchs-Setting schreien unsicher-ambivalent gebundene Kinder, wenn die Mutter den Raum verlässt. Sie sind extrem auf die Mutter als Bezugsperson fixiert. Kehrt die Mutter zurück, sind diese Kinder in ihren Emotionen hin- und hergerissen. Einerseits sind sie froh, dass die Mutter wieder da ist. Andererseits sind sie wütend auf die Mutter, weil sie sie verlassen hat. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder lassen sich nicht gut beruhigen und zeigen kaum Interesse am Weiterspielen. Solche Kinder sind sehr anhänglich und neigen zum „Anklammern“. Das unsicher-desorganisierte Bindungsmuster Wie verhalten sich Kinder mit einem desorganisierten Bindungsstil in der „fremden Situation“? Solche Babys reagieren äußerst widersprüchlich. Bei Rückkehr der Mutter kann es passieren, dass sie die Nähe der Mutter suchen und gleichzeitig davonlaufen, dass sie schreien und sich auf den Boden werfen, also Verhaltensweisen, die nicht zueinanderpassen, die keine klare Strategie erkennen lassen. Es scheint, als wären diese Kinder in ihrer Beziehung zur Mutter zerrissen und hätten keine klare Strategie zur Hand, mithilfe derer sie die Trennung bewältigen könnten. Sie scheinen überfordert zu sein. Ein weiteres typisches Merkmal dieses Bindungsstils ist eine gewisse Starrheit, ein Einfrieren von Mimik und Motorik. Und besonders problematisch ist, dass manche dieser Kinder Angst zu haben scheinen. Welche Erklärungsansätze gibt es für diese bizarren Reaktionen? Die desorganisierte Bindung kann verschiedene Ursachen haben. Wenn die Mutter beispielsweise für die Versorgung, also das Füttern, Wickeln, Baden usw., verantwortlich ist und das Kind quasi abhängig von ihr ist, die Mutter das Kind aber gleichzeitig misshandelt oder emotional vernachlässigt, dann kann das widersprüchliche Emotionen beim Kind auslösen. Einerseits sucht es die Nähe zur Mutter, andererseits fürchtet es sich vor ihr und will flüchten. Diese innere Zerrissenheit ist so groß, dass sie für ein einjähriges Kind nicht aufzulösen ist. Eine stereotype Ausdrucksweise für dieses Bindungsmuster liegt beispielsweise dann vor, wenn ein Kind länger als 20 Sekunden in Starre verharrt und die Augen fest geschlossen hält, als wolle es das Geschehene bewusst ausschalten, also sprichwörtlich die Augen verschließen. Ein anderes typisches Erscheinungsbild liegt vor, wenn ein Kind mit ängstlichem Ausdruck die Hände über den Kopf, vors Gesicht oder über den Mund wirft. Wir bezeichnen das als stereotype Bewegungen, die Ausdruck einer tiefen Zerrissenheit sind. Grundlegender Einfluss auf die spätere Entwicklung Inwiefern beeinflussen die jeweiligen Bindungsmuster die weitere Entwicklung? Grundsätzlich ist es so, dass die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung der Bindung zur wichtigsten Bezugsperson zulasten des Explorationsverhaltens geht, also der Erkundung der Umwelt. Im Idealfall ist das Verhältnis halbwegs ausgeglichen. Ein Kind, das sicher gebunden ist, kann sich mehr auf das Spielen oder Lernen einlassen, weil es sich nicht immer wieder rückversichern oder sicherstellen muss, dass die Mutter zuverlässig verfügbar ist. Das Ehepaar Grossmann, das ich bereits erwähnte, hat die Konsequenzen einer sicheren Bindung in verschiedenen Entwicklungsstufen analysiert und u. a. folgende Befunde erhoben: Etwa im Alter von zwei Jahren sind sicher gebundene Kinder eher in der Lage, sich die Unterstützung der Mutter zu sichern, wenn sie Hilfe brauchen. Das ist eine wichtige Kompetenz, auf die diese Menschen auch im späteren Leben zurückgreifen können. Auch der Umgang mit Gleichaltrigen im Kindergartenalter fällt diesen Kindern leichter als unsicher gebundenen Kindern. Das Ehepaar Grossmann hat auch zeigen können, dass sich sicher gebundene Kinder beim Spielen besser konzentrieren können und später im Schul- bzw. Judendalter leichter Freundschaften unterhalten und ein beziehungsorientiertes Verhalten kultivieren; allesamt Verhaltensweisen und Fähigkeiten, die zumindest mal eine gute Basis für ein glückliches, selbstbestimmtes Leben schaffen. Und wie entwickeln sich im Unterschied dazu unsicher gebundene Kinder? Bei unsicher gebundenen Kindern ist das Verhältnis oder die Balance zwischen der Notwendigkeit, die Bindung zur Bezugsperson sicherzustellen im Sinne einer Überlebensstrategie, und dem natürlichen Drang, die Welt zu erkunden, nicht ausgewogen. Wenn die Signale eines Kindes von der Bezugsperson mal so und mal so beantwortet werden, versuchen unsicher-ambivalent gebundene Kinder, die Bindung zur Mutter sicherzustellen. Dieses verstärkte Bemühen nach Nähe geht allerdings zulasten des Explorationsverhaltens. Bedeutet das, dass sie weniger im Spiel aufgehen und sich weniger gut auf das Leben einlassen können, weil sie immer mit einem Auge bei der Mutter sind? Haben diese Kinder per se schlechtere Startchancen? So pauschal kann man das nicht sagen. Aber wer mehr Energie auf die Sicherstellung von Grundbedürfnissen – und die Bindung ist nun mal ein elementares Bedürfnis – verwendet, hat klarerweise weniger frei verfügbare Ressourcen für die Entwicklung. Aber ich habe ja bereits darauf hingewiesen, dass solche frühen Erfahrungen im späteren Leben überschrieben werden können. Wie könnte das aussehen? Wenn Sie beispielsweise in der Schule Freundschaften schließen, die belastbar sind, die tragen, wenn Sie ein gutes Verhältnis zu Geschwistern haben, die fürsorglich sind, wenn Sie im späteren Leben einen Partner finden, der stabil und zuverlässig für Sie da ist, dann dürfen Sie die Erfahrung machen, dass Ihrem Bedürfnis nach Nähe entsprochen wird, dass Sie sich auf die Menschen in Ihrem Umfeld verlassen können, wenn Sie in Not sind. Denn darauf kommt es ja letztlich an. Das Bindungssystem wird ja immer dann in besonderem Maße aktiviert, wenn wir der Unterstützung anderer Menschen bedürfen. Das heißt, Sie erleben, dass Sie sich fallen lassen und anlehnen können. Und das gibt Ihnen dann eine Sicherheit, die Sie zwar am Beginn Ihres Lebens nicht entwickeln konnten, die sie aber durch andere Erfahrungen im Laufe des Lebens aufbauen können. Und aus dieser Sicherheit heraus können Sie Ihre Aufmerksamkeit dann auch mehr auf die Erkundung der Welt legen, auf die Ausbildung, den Beruf, eigene Interessen. Veränderung durch psychotherapeutische Betreuung möglich Es ist also nichts verloren, wenn es zu Beginn des Lebens nicht ganz glatt läuft in Sachen Bindung? Nein, und selbst wenn Sie nicht das Glück haben, später Menschen zu begegnen, mit deren Hilfe Sie die etwas ungünstigen Bindungsmuster der Kindheit ausgleichen und korrigieren können, gibt es immer noch die Möglichkeit einer Psychotherapie, womit wir gute Erfahrungen haben und womit die Menschen, die das in Anspruch nehmen, Verhaltensmuster, die aus ungünstigen Bindungserfahrungen resultieren, korrigieren und verändern können. Was wären typische oder beispielhafte Verhaltensmuster, denen Sie, die Sie ja psychotherapeutisch tätig sind, in der Praxis begegnen? Kinder vom unsicher-vermeidenden Bindungstyp meiden mitunter enge Bindungen aus Angst oder aus der Unsicherheit heraus, abgelehnt zu werden, weil ihre Signale nicht zuverlässig von der Bindungsperson beantwortet worden sind. Diese Kinder haben gelernt, ihre Gefühle und Affekte zu unterdrücken, also die Enttäuschung und vielleicht auch die Wut darüber, nicht in dem Maße wahrgenommen zu werden, wie sie es bräuchten. Unterdrücken sie ihre Gefühle aus Angst, dann erst recht abgelehnt zu werden, wenn sie ihre Bedürfnisse anmelden und ihren Platz in der Welt reklamieren? Ja, diese Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass Bindung leichter aufrechtzuerhalten ist, wenn sie nicht weinen oder anderweitig ihren Unmut bekunden. Sie lernen früh, ihre Gefühle zu kontrollieren. Diese Kinder scheinen oberflächlich wenig Interesse an Bindung und Beziehung zu haben und mehr an ihrer Umwelt, an der Erkundung der Welt interessiert zu sein. Sie vermeiden dann folgerichtig Beziehungen oder Bindungen, um sich nicht von der Zuneigung anderer Menschen abhängig zu machen und so gewissermaßen der Enttäuschung, der Ablehnung aus dem Weg zu gehen. Nach außen präsentieren sie sich als stark und unabhängig und in gewissem Maße auch als bedürfnislos. Was sie nicht sind? Natürlich nicht. Und die unterdrückten Affekte lösen dann Stress aus. Forschungsergebnisse zeigen, dass Kinder vom unsicher-vermeidenden Bindungstyp im Kindergartenalter aggressiver und feindseliger und etwas verhaltensauffälliger sind. Das spiegelt sich auch in biologischen Parametern wider. Sowohl unsicher-vermeidende Kinder als auch unsicher-distanzierte Erwachsene weisen bei Aktivierung ihres Bindungssystems erhöhte Cortisolspiegel, eine erhöhte Hautleitfähigkeit sowie eine erhöhte Herzrate auf, was letztlich Anzeichen von Stress sind. Das heißt, die Aufnahme einer Beziehung ist unbewusst mit Stress assoziiert und das Zeigen von Bindungsverhalten wird daher möglichst vermieden. Kann man davon ableiten, dass die Bindungsvermeidung sich im Erwachsenenalter fortsetzt? Nicht zwingend, aber wenn die Erfahrungen nicht durch neue, emotional korrigierende Erfahrungen überschrieben werden, dann kann es z. B. vorkommen, dass verbindliche Beziehungen umgangen und eher Partner gewählt werden, die bereits gebunden sind und die für eine stabile Beziehung oder eine Ehe gar nicht zur Verfügung stehen. Die vermeidende Haltung kann sich auch auf Konflikte erstrecken, die umgangen werden, weil man nicht gelernt hat, Widerspruch zu leisten oder seine Position zu behaupten. Auch die Unfähigkeit oder nicht so gut entwickelte Fähigkeit, Hilfe zu erbitten und in Anspruch zu nehmen, kann den Betroffenen im Erwachsenenalter das Leben schwer machen. Solche Menschen stellen sich öfter hinten an und lassen anderen den Vortritt. Und dieses Sich-immer-hinten-Anstellen kann wiederum Frustration und Aggressionen hervorrufen, weil man unsichtbar bleibt und sich benachteiligt fühlt. Und das können Sie oder andere Therapeuten feststellen und korrigieren? Ja, dafür haben wir anhand von Interviews Fragetechniken entwickelt, um analysieren zu können, welche Bindungserfahrungen die Menschen gemacht haben bzw. wie sie diese verarbeitet haben. In der Therapie kann man ganz behutsam die sensiblen Punkte angehen und bearbeiten. Beeinflusst das jeweilige Bindungsmuster auch klinische Parameter direkt oder indirekt? Wir wissen, dass eine sichere Bindung ein Schutzfaktor vor Stress ist, dass die Sicherheit des sozialen Umfelds mit einer gewissen Stress-Resilienz einhergeht. Sichere Bindungen gelten auch als Puffer vor selbstschädigendem Verhalten, vor Drogenkonsum oder Aggressionen. Wir haben auch Daten dazu, dass beispielsweise Depressionen bei sicher gebundenen Menschen seltener auftreten als beispielsweise beim desorientierten Bindungstyp. Paradigmenwechsel: Kinder nicht länger schreien lassen Welches sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Errungenschaften der Bindungsforschung? Konkret verdanken wir John Bowlby das Rooming-in, was vor allem für Kinder, aber auch für die Eltern ein Segen ist. Früher waren selbst Babys allein im Krankenhaus, ohne Zuwendung. Insbesondere längere Trennungen werden von Kleinkindern als traumatisch erlebt, was psychische Entwicklungsstörungen nach sich ziehen kann. Das Wissen um die Notwendigkeit einer sicheren Bindung und der damit einhergehenden Bedürfnisse von Babys und Kleinkindern hat uns auch gelehrt, dass man Kinder beispielsweise nicht länger schreien lassen soll, weil ihr Schreien in der Regel einen Grund hat. Wir wissen heute, dass Kinder besser in die Stressregulation kommen, wenn sie sich darauf verlassen können, dass ihre Hilferufe wahrgenommen werden und ihnen geholfen wird, wobei auch immer. Die Möglichkeit, problematische Bindungserfahrungen therapeutisch bearbeiten zu können, ist vor allem für Menschen mit einer desorganisierten Bindung eine große Hilfe. Ist dieser Bindungstyp besonders vulnerabel? Der desorganisierte Bindungstyp, wovon ungefähr 15 % betroffen sind, ist der einzige Bindungstyp, der tatsächlich mit Risiken für verschiedene Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten, aber auch Krankheiten verbunden ist. In dieser Gruppe sehen wir vermehrt Depressionen, bipolare Störungen, Aufmerksamkeitsstörungen und Konzentrationsschwächen. Diese Menschen neigen zu Hypervigilanz, das heißt, sie sind extrem wachsam und darauf bedacht, ihr Verhalten zu kontrollieren. Sie sind in einer Art Daueranspannung, was die Betroffenen auf Dauer erschöpft. Das spiegelt sich auch in erhöhten Cortisolspiegeln wider, aber auch in klinischen Auffälligkeiten – d. h. solche Menschen haben dann auch ein erhöhtes Risiko, krank zu werden. Das ist der Bindungstyp, der am vordringlichsten einer psychotherapeutischen Betreuung bedarf. Prof. Buchheim, herzlichen Dank für dieses Gespräch! Antje Maly-Samiralow Über die Autorin Antje Maly-Samiralow ist Journalistin mit Schwerpunkt auf Medizin- und Gesundheitsthemen, Autorin und Moderatorin. Literatur • Anna Buchheim: Bindungsforschung und psychodynamische Psychotherapie. Vandenhoeck & Ruprecht, 2018. • John Bowlby: Bindung als sichere Basis. Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie. Ernst Reinhardt Verlag, 5. Edition, 2021. • Marianne Leuzinger-Bohleber, Gerhard Roth und Anna Buchheim: Psychoanalyse – Neurobiologie –Trauma. Schattauer Verlag, 2018. • Anna Buchheim: Bindung und Exploration. Ihre Bedeutung im klinischen und psychotherapeutischen Kontext. Kohlhammer Verlag, 2016. • Katja Gaschler und Anna Buchheim (Hrsg.): Kinder brauchen Nähe. Sichere Bindung bauen und erhalten. Schattauer Verlag, 2012.

Der Artikel "Bindung schafft Sicherheit im Leben" ist Teil der Audio-Ausgabe Dezember 2023

Bindung schafft Sicherheit im Leben

Interview mit Bindungsforscherin Prof. Dr. Anna Buchheim

Sie haben diese Audio-Ausgabe bereits gekauft oder sind AboPlus Abonnent*in? Bitte loggen Sie sich ein.

NATUR & HEILEN
Geschenk-Abo

Verschenken Sie wohltuende Lesemomente und überraschen Sie einen lieben Menschen!

Sammelbox

Der Artikel "Bindung schafft Sicherheit im Leben" ist Teil der Audio-Ausgabe Dezember 2023

Bindung schafft Sicherheit im Leben

Interview mit Bindungsforscherin Prof. Dr. Anna Buchheim

Sie haben diese Audio-Ausgabe bereits gekauft oder sind AboPlus Abonnent*in? Bitte loggen Sie sich ein.

NATUR & HEILEN Geschenk-Abo

Verschenken Sie wohltuende Lesemomente und überraschen Sie einen lieben Menschen!

Wollen Sie die Audio-Ausgabe Dezember 2023 jetzt freischalten?

Sammelbox

NATUR & HEILEN
Geschenk-Abo