Wie gute Gefühle Körper und Seele stärken

In unserer Gesellschaft sind Emotionen oft nicht willkommen und werden im Vergleich zu unserem Verstand, der zur Lösung sämtlicher Probleme herangezogen wird, als Frühwarnsignal der psychischen Gesundheit meist völlig unterschätzt. Dabei sind gute Gefühle zentral für unser seelisches und körperliches Wohlbefinden. Dr. Marcus Täuber ist Neurobiologe und hat sich im Rahmen seiner Forschungen mit der Frage beschäftigt, wie die emotionale Seite unseres Gehirns genau funktioniert und wie sie uns maßgeblich beeinflusst. NATUR & HEILEN hat mit Dr. Täuber über die zentrale Rolle von positiven Emotionen gesprochen und wie diese nicht nur die individuelle Lebensqualität verbessern können, sondern auch die Welt zu einem besseren Ort machen. Interview mit dem Neurobiologen Dr. Marcus Täuber In Ihrem neuen Buch „Gute Gefühle“ beglückwünschen Sie die Leser: Noch würde sich nur eine kleine Minderheit intensiv mit dieser Thematik beschäftigen. „Aber du und ich, wir werden immer mehr.“ Wieso fristen die guten Gefühle so ein Nischendasein? Das hat evolutionsbiologische Gründe. Vereinfacht: Unser Gehirn ist dafür gemacht, unser Überleben zu sichern. Risikovermeidung, Flucht, Fortpflanzung, Arterhaltung – bei all dem helfen uns Emotionen. Dafür scannt unser Gehirn die Umgebung permanent nach möglichen Problemen ab. Unsere Aufmerksamkeit ist auf Gefahren ausgerichtet – und damit ständig auf das Negative fixiert. Das führt zu einem verbreiteten Missverständnis: Wir glauben, wir müssten unsere Probleme im Außen lösen. Das stimmt aber nicht. Was ist dann richtig? Ein erfülltes Leben beginnt bei uns selbst. Gute Gefühle lassen sich trainieren. Im Idealfall tun wir das regelmäßig – so, wie wir auch unsere Zähne putzen. Fachleute sprechen von Psychohygiene. Mentales Zähneputzen sage ich manchmal dazu. Hartnäckige Vorurteile Tatsächlich fällt beim Lesen Ihres Buches eine gewisse Leichtigkeit im Umgang mit dem Thema Gefühle auf. An einer Stelle bezeichnen Sie gute Gefühle als unterschätzte Superpower. Dann sprechen Sie von einer emotionalen Vitaminbar. Darin würden uns gute Gefühle aller Art erwarten – vielfältig, reichhaltig und gesund. Können wir uns Gefühle tatsächlich gezielt zuführen? Vielleicht fast so wie ein Nahrungsergänzungsmittel? Wir können das nicht nur, wir sollten das sogar tun. Zahlreiche Studien zeigen: Unsere mentale und körperliche Gesundheit wird maßgeblich von unseren Gefühlen beeinflusst. Bestimmte Emotionen sind buchstäblich reine Medizin für unser Immunsystem und unseren Stoffwechsel. Auch die Wirkung gegen Depressionen ist belegt. Erstaunliche Ergebnisse liefert z. B. das Ressource-Projekt in Berlin und Leipzig der deutschen Max-Planck-Gesellschaft. Was haben die Forscher herausgefunden? Es handelt sich um eine der bisher größten Studien zu mentalem Training. 9 bis 10 Monate lang wurde an mehr als 300 Personen untersucht, wie Atem, Meditation und bestimmte Achtsamkeitsübungen wirken. Gemessen wurden insgesamt 90 Parameter aus psychologischen Tests, Blutproben und Hirnscans. Was sich zeigte: Innerhalb von 3 Monaten ließen sich beim Umgang mit Stress und negativen Emotionen dramatische Verbesserungen erzielen – und zwar unabhängig von Geschlecht und Lebensjahren, bis ins hohe Alter. Unabhängig von Geschlecht – das lässt aufhorchen, wo doch Frauen seit jeher nachgesagt wird, an den eigenen Gefühlen näher dran zu sein. Dass Frauen emotionaler sind als Männer, ist ein Vorurteil, das sich hartnäckig hält. Neue Studien zeigen: Es gibt keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern in puncto emotionale Schwankungen. Wer sich die Ergebnisse ansieht, muss sich eingestehen: Dass Emotionen bis heute mit zweierlei Maß gemessen werden, entbehrt jeder wissenschaftlichen Substanz. Schauen Sie, wenn der portugiesische Fußballer Ronaldo nach einer Niederlage Tränen vergießt, gilt er als leidenschaftlich. Frauen unterstellt man dagegen bei emotionalen Reaktionen Drama. Höchste Zeit, diese veralteten Ansichten über Bord zu werfen. Gerade hier bei uns. Warum gerade hier, was meinen Sie? In Deutschland sind Emotionen prinzipiell nicht willkommen, der Verstand wird zur Lösung aller Probleme hochstilisiert. Dabei bereuen viele Menschen am Ende ihres Lebens, ihre Gefühle nicht ausreichend gezeigt zu haben. Gefühle als „Störgeister“ Wenn der Effekt guter Gefühle so bahnbrechend ist: Wieso will das dann eigentlich nur eine Minderheit wahrhaben? Das hat vor allem kulturelle Gründe. Schon antike Denker forderten einen rigiden Umgang mit den Gefühlen. Philosophen von Platon bis Kant priesen die emotionsfreie Erkenntnis. Sie hielten Gefühle für mächtige und unabweisliche Leidenschaften, die die Seele auf ihrer Suche nach der Wahrheit verwirren würden. Noch bis Mitte des letzten Jahrhunderts wurde der Mensch vielfach als eine Art Dompteur gesehen, dessen Aufgabe es sei, seine Gefühle zu domestizieren, sie mithilfe gezielter Peitschenhiebe in den Käfig der Vernunft zu treiben. Spätestens seit Sigmund Freud weiß man aber: Was oberflächlich in Schach gehalten zu sein scheint, brodelt möglicherweise im Untergrund weiter. Das ist richtig. Bereits 1930 entdeckten Mediziner, dass bei Menschen, die ihre Gefühle konsequent unterdrücken, der Blutdruck dauerhaft ansteigt. Die Idee von Gefühlen als Störgeister für „richtiges“ Verhalten ist aber weiterhin verbreitet. Auch im Bereich der Psychologie wohlgemerkt. Das überrascht. Ist es nicht das zentrale Anliegen zahlreicher therapeutischer Methoden, einen besseren Zugang zu den eigenen Gefühlen zu bekommen? Man sollte das meinen. Tatsächlich funktionieren Therapien bis heute allerdings vielfach nach einer Herangehensweise, die das Problem weiter verstärkt. Schauen Sie, die Gesprächstherapie wurde zum ersten Mal 1816 von Johann Heinroth als therapeutische Methode eingeführt. Seitdem hat sie sich kaum weiterentwickelt. Man redet über ein Problem, will das Problem verstehen, fragt sich: Woher kommt es? Aus Sicht der modernen Hirnforschung ist das häufig kontraproduktiv, denn es kann dabei zu Verschaltungen kommen, die die Problemzusammenhänge weiter verstärken: Die Neuronennetze, die das Kreisen um das Problem befeuern, werden weiter ausgebaut. Guten Gefühlen mehr Raum geben Und wenn wir uns nun in einer Art „Gefühlsbar“ bedienen, geschieht das Gegenteil? Glauben Sie wirklich, dass so etwas in einer Welt voller sich zuspitzender Krisen funktioniert? Wir leben in einer verrückten Zeit! Ich gebe zu: Auch ich kenne diesen Gedanken. Indem wir allerdings immer mehr und irgendwann vielleicht ausschließlich auf Probleme schauen, tragen wir aktiv zu einer Verschlechterung der Situation bei. Ein Wahrnehmungsfilter, der stark auf Katastrophen gerichtet ist, ist irgendwann außerstande, das Gute zu sehen, das es im Leben ja auch gibt. An was denken Sie? Statistisch betrachtet sterben bei Kriegen heute weniger Menschen als noch vor 20 Jahren. Das ist Fakt, auch wenn unsere subjektive Wahrnehmung uns etwas anderes erzählen will. Richtig ist: Die Welt dreht sich immer schneller, wir befinden uns inmitten einer gewaltigen Transformation. Wir täten gut daran, das erst einmal wertfrei festzustellen. Es würde uns dann leichterfallen, die Herausforderungen anzunehmen und entsprechend mit ihnen umzugehen. Wir würden dann z. B. nicht nur sehen, dass alles immer teurer wird, sondern dass uns vieles, was wir früher für teures Geld kaufen mussten, mittlerweile kostenlos zur Verfügung steht. Dass wir z. B. wissen: Was kann ich für meine Gesundheit tun? Wie werde ich selbstbewusster? Wie gründe ich ein Unternehmen? Milliarden von Inhalten hochkarätiger Experten wie Hochschul- oder Wirtschaftsgrößen sind völlig kostenlos auf YouTube verfügbar. Dieses Wissen kann zu mehr Wohlbefinden führen und ist damit unendlich wertvoll – für den Einzelnen, aber auch für das menschliche Miteinander. Gerade in Zeiten von Dauerkrisen sollten wir nicht außer Acht lassen, dass es neben der wahrgenommenen allgemeinen Abwärtsspirale auch eine Aufwärtsspirale guter Gedanken, Gefühle und Energien geben kann. Wer guten Gefühlen mehr Raum geben möchte, braucht nur zuzugreifen. Was genau verändert sich, wenn wir uns an der – bleiben wir ruhig bei diesem Bild – Vitaminbar bedienen? Geht es darum, dass wir unsere Gefühle generell ernster nehmen? Gut, dass Sie fragen. An der Stelle möchte ich etwas klarstellen: Gute Gefühle sind nicht oder zumindest nicht nur zum Gutfühlen da. Es geht nicht um eine rosarote Brille, die wir uns aufsetzen, sondern um echte Transformation, die aus unserem gewandelten Gefühlsleben erwachsen kann. Menschen sind nicht logisch, sondern psychologisch, sage ich manchmal in meinen Vorträgen. Kluge Koalition aus Herz und Verstand Was hat aus Ihrer Sicht den größeren Stellenwert: der Verstand oder das Gefühl? Es geht nicht um einen Wettkampf Herz gegen Kopf. Sprechen wir besser von einer Art kluger Koalition. Emotionen sind evolutionsbiologisch stark in uns verankert, stärker als der Verstand, wenn Sie so wollen. Beim Blick in Richtung Abgrund wird uns mulmig zumute: ein sinnvoller Schutzmechanismus. Bei Angst fließt Blut in die Beine: Das erleichtert die Flucht. Wenn wir uns erschrecken, heben sich unsere Augenbrauen, das Blickfeld wird größer und mehr Licht fällt auf die Netzhaut. Folglich erhalten wir mehr Informationen über das unerwartete Ereignis. Selbst das schmerzliche Gefühl der Trauer hat seinen biologischen Sinn: Der Stoffwechsel verlangsamt sich, die Lebensenergie wird schwächer – der ganze Körper sagt: Bleib zu Hause – da, wo du am wenigsten verletzlich bist. Doch Gefühle können weit mehr als uns geschickt vor Gefahren schützen. Nämlich? Im zwischenmenschlichen Bereich haben sie eine bindende Wirkung. Ohne Liebe gäbe es keine Langzeitpartnerschaften. Ohne Sympathie kein Sich-Näherkommen. Zuneigung schafft ein Gefühl von Zuständigkeit. Aufs Ganze gesehen sind Gefühle also zu unserem Besten. Trotzdem kehren sie keinesfalls immer nur das Gute in uns hervor: Leidenschaft kann in krankhaftes Verlangen umschlagen, Wut in Gewalt, Ängste in Depressionen. Gerade im Bereich der destruktiven Gefühle können Gefühle zu Selbstläufern werden. Wie machtlos wir den eigenen Emotionen gegenüberstehen, merken wir, wenn wir uns im Flieger panisch am Sitz festkrallen – obwohl wir doch wissen, dass es statistisch kein sichereres Verkehrsmittel gibt. Unterschied zwischen Gefühlen und Emotionen Die genannten Beispiele scheinen dafür zu sprechen, dass hier und da doch eine Art Dompteur Sinn macht, der die Gefühle in Schach hält. Diese Überzeugung ist verbreitet, aber sie greift zu kurz. Die Wirklichkeit ist komplexer. Auch wenn sich die meisten Emotionsforscher einig sind, dass das Gefühl bei sämtlichen Entscheidungen in letzter Konsequenz das finale Go liefert – der Mensch kann und muss sich mittels des Verstandes Alternativen aufzeigen lassen. Das wiederum vermag schon im nächsten Augenblick die Art zu fühlen zu ändern. Wir beginnen ganzheitlicher zu entscheiden, wenn wir lernen, unser Innenleben besser wahrzunehmen. Können Sie ein Beispiel nennen? Ganz banal: Man steht an der Supermarktkasse, und jemand drängelt sich vor. Es ist etwas anderes, ob in meinem Organismus die pure Reaktion von Blutdruckanstieg bis Ballen der Fäuste abläuft oder ob ich diesen Prozess mit einer gewissen Distanz beobachte und mir klarmache: Ich bin wütend. Die Begriffe Emotionen und Gefühle werden zwar gern bedeutungsgleich verwendet, es gibt aber einen kleinen entscheidenden Unterschied. Worin genau liegt er? Die Emotion funktioniert wie ein Reflex, siehe das Beispiel Supermarkt: Der Blutdruck steigt, Adrenalin wird durch den Körper gepumpt. Das Gefühl, das folgt – Wut – kommt durch einen gedanklichen Impuls zustande. Vielleicht geht uns so etwas wie „Frechheit!“ oder „Unverschämt!“ oder „Was für ein Egoist!“ durch den Kopf. Auch wenn dieser Impuls nur Bruchteile von Sekunden dauert: Durch ein bewussteres Wahrnehmen ist an dieser Stelle Veränderung möglich. Beim nächsten Mal lasse ich dann vielleicht das „Unverschämt!“ weg. Denn wer weiß, vielleicht war die Person ja einfach nur im Stress und hat gar nicht bemerkt, dass wir auch angestanden haben? Heißt das, wenn wir auf der Gefühlsseite etwas ändern, können wir längerfristig auch auf Seiten der Emotionen etwas ändern? So ist es. Gefühle lassen sich mit etwas gutem Willen relativ rasch verändern. Eine Transformation der Emotionen bedarf neuer Reiz-Reaktions-Verknüpfungen. Das ist ein längerer Prozess. Aber er lohnt sich, wie die Forschung seit 10 bis 15 Jahren zeigt. Besten Dank an der Stelle all den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die den Mut hatten, die Wirkung von Mentaltechniken auf Gehirn und Gemüt zu erkunden! Raum der Selbstregulation Wenn sich gute Gefühle, wie Sie sagen, trainieren lassen: Wie fängt man am besten an? Was auf jeden Fall hilfreich ist, ist sich klarzumachen, dass es nicht stimmt, wenn wir glauben: „Ich bin das Gefühl.“ Richtig ist: „Ich habe Gefühle.“ Mit der Wahrnehmung von Schmerz ist es übrigens ähnlich. Mal angenommen, der Arm schmerzt: Es macht einen Unterschied, ob ich mich damit identifiziere, dass alles wehtut, oder ob ich den Schmerz gezielt beobachte. Letzteres bringt bereits Erleichterung. Es geht also um ein Dazwischen – oder wie Sie eben gesagt haben, um eine gewisse Distanz, richtig? Genau. In meiner Coaching-Praxis lasse ich Klientinnen und Klienten gern mit ihrer Atmung arbeiten und sie beispielsweise ein langes „Ffff“ ausatmen. Die Zähne bremsen dabei, wodurch das Ausatmen automatisch verlängert wird. Und was ist der Sinn dieses verlängerten Ausatmens? Als Neurobiologe würde ich sagen: Unser Entspannungsnerv, der Nervus vagus, wird aktiviert. Als Mensch sage ich darüber hinaus: Wenn wir bewusst ausatmen, betreten wir einen Raum, der es uns erlaubt, ein anderer zu werden. Einen Raum der Selbstregulation. Dazu gibt es übrigens brandneue Ergebnisse eines US-Psychiatrieprofessors, Dr. David Spiegel von der Stanford University. Er konnte zeigen, dass das Gefühl der Angst mithilfe bewusster Atemtechniken herunter- und die Stimmung parallel dazu heraufreguliert werden kann. Zugegeben: Techniken wie das sogenannte zyklische Seufzen, die im Rahmen der Studie eine Rolle gespielt haben, bedürfen etwas Übung. Eine weitere Technik des achtsamen Umgangs mit Emotionen lässt sich aber ganz ohne irgendwelche Vorkenntnisse in den Alltag einbauen: das „Affect Labeling“. Hierbei gibt man dem wahrgenommenen Gefühl eine kurze Beschreibung, benennt also, was passiert. Man kann z. B. sagen: „Ich empfinde gerade Angst.“ Oder noch effektiver, da die Distanz so noch einen Tick größer wird: „Da ist Angst.“ Heilsamer Perspektivwechsel Das klingt fast so, als sollte das jeweilige Gefühl willkommen geheißen werden? Das trifft es. Auch dazu gibt es übrigens spannende wissenschaftliche Erkenntnisse. US-Sozialpsychologen haben in über 200 Studien statistisch untersucht, wie wir am besten mit belastenden Emotionen umgehen können. In der Publikation wurden insgesamt 5 Strategien verglichen, u. a. das Unterdrücken von Emotionen. Das ist klar der Schuss, der nach hinten losgeht. Die belastenden Gedanken und Gefühle brechen in der Folge sogar noch stärker aus. Der Perspektivwechsel, über den wir gerade schon gesprochen haben, schneidet deutlich besser ab. Es gibt dafür zweierlei Möglichkeiten. In der Fachsprache des mentalen Trainings nennen wir die Neubewertung von Gefühlen „Reframing“. Den Aufbau von Distanz bezeichnen wir als Dissoziation. Bei beiden Ansätzen beruhigen sich nachweislich bestimmte emotionale Zentren im Gehirn. Gibt es neben Atemtechniken und „Affect Labeling“ noch weitere Tipps, wie man den Perspektivwechsel üben kann? Sie haben eben beim Supermarkt-Beispiel von einem bewussteren Wahrnehmen gesprochen. Wie gelingt so etwas konkret? Stellen Sie sich vor, Sie säßen im Kino und würden sich vorne auf der Leinwand sehen. Dank guter Bild- und Ton-Qualität erleben Sie Ihr Verhalten weiterhin sehr intensiv. Aber Sie sind dabei in einer beobachtenden Rolle. Dadurch verändert sich etwas. Aber ist das nicht nur eingebildet? Wir bleiben schließlich wir selbst. Die Frage ist, was Einbildung ist. Unser Gehirn ist ständig dabei, die Welt zu interpretieren oder – um bei Ihren Worten zu bleiben – sich etwas einzubilden. Die Frage ist: Muss das zu meinem Nachteil sein, oder kann ich das Wahrgenommene aktiv und nach meinen Wünschen zu meinem Vorteil gestalten? Noch mal: Ich spreche hier nicht nur aus meiner persönlichen Überzeugung, sondern auf Grundlage zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen. Wenn wir unsere Emotionen aus der Schmuddelecke herausholen, sie uns bewusst machen und würdigen, fahren wir unterm Strich besser. Und zwar nicht nur situativ, sondern ganz generell. Wir sprechen über nicht weniger als über mehr emotionale Reife. Je mehr positive Gefühle wir generieren, desto lebenswerter wird diese Welt. Mit guten Gefühlen gegen Entzündungen In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Gefühle wie Ehrfurcht und Staunen bestimmte Erkrankungen beeinflussen können? Ja, diese positiven Gefühle wirken wie ein Booster. Entzündungsmarker wie das Interleukin-6 gehen merklich zurück, wenn Menschen etwas erleben, was sie tief berührt. Der Effekt dürfte all jene aufhorchen lassen, die unter chronisch-entzündlichen Krankheiten leiden. Kann man das ehrfürchtige und staunende Betrachten der Welt denn lernen? Absolut. Und zwar am besten im Naturkontakt. In einer schönen Landschaft oder unter einem funkelnden Sternenhimmel etwa. Ich selbst bringe mich immer wieder ganz gezielt in solche Situationen. Positive Emotionen als Kraftquelle nutzen Allerdings sind solche grandiosen Naturerlebnisse nicht jedem vergönnt. Der letzte Urlaub liegt vielleicht schon länger zurück, und in einer Großstadt zeigen sich die Sterne am Himmel – Stichwort Lichtverschmutzung – nur teilweise. Das ist richtig, tatsächlich geht es auch eine Nummer kleiner. Wir können dabei zusehen, wie Grashalme auf einer Wiese dem Wind trotzen. Manch einen verzaubert vielleicht der Anblick eines Baumes. Wie stabil er da steht, einfach so. Übrigens: Der Effekt des Staunens stellt sich auch bei der Betrachtung von Bildern ein, z. B., wenn wir uns ein Foto von einem Sternenhimmel oder einer schönen Natur anschauen. Ich selbst habe ein Foto von einem Löwen neben meinem PC stehen, als kraftgebende Inspiration. Ein Kunde von mir bemerkt einen Unterschied seiner mentalen Verfassung, seitdem er sich ein Aquarium angeschafft hat. Holen wir uns die Natur nach Hause – in Form von Blumentöpfen, Bildern oder auch Bildschirmschonern auf Laptop oder Handy. Es liegt an uns, ob wir uns dazu entschließen, gute Gefühle als Kraftquelle anzuzapfen. Ob wir am Abend mit positiven Bildern ins Bett gehen oder vor dem Schlafengehen einen Krimi schauen. Will ich mir einfach nur die Zeit vertreiben? Oder möchte ich mich inspirieren lassen? Ich bin es, der entscheidet. Ich persönlich lasse den Tag gern mit einem kleinen Rückblick ausklingen, bei dem ich mir in Erinnerung rufe, was mich positiv inspiriert hat. Dabei erlebe ich Dankbarkeit. Und Dankbarkeit ist eine von insgesamt neun positiven Emotionen, die nachweislich gesund machen. Freude, Gelassenheit, Interesse, Hoffnung, Stolz, Inspiration, Vergnügen und Liebe – das sind die anderen acht. Sie alle haben etwas gemein. Sie sind alle letztlich nur Mittel zum Zweck, nicht Ziel. Weg vom Ereignis hin zum Prozess, darum geht es. Studien zeigen klar: Es kommt auf die Frequenz dieser Gefühle an. Anders ausgedrückt: Wie intensiv das Staunen oder die Dankbarkeit wahrgenommen werden, ist nicht so wichtig. Viel entscheidender ist, dass wir dranbleiben und dafür sorgen, dass es nicht bei diesem einen Gefühlserleben bleibt. Herr Täuber, herzlichen Dank für dieses Gespräch! Elisabeth Hussendörfer Über die Autorin Elisabeth Hussendörfer ist freie Journalistin. Sie schreibt seit mehr als 20 Jahren in den Bereichen Psychologie, Gesundheit, Medizin, Soziales und Familie. Literatur • Dr. Marcus Täuber: Gute Gefühle – Nutze die emotionalen Stärken deines Gehirns. Goldegg Verlag, 2023.

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